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40 Anatomie eines „lebenden Organismus“
klima und die Übergangszone des Mittelgebirges.20 Eine darauf aufbauende Karte
für den Atlas des deutschen Lebensraumes in Mitteleuropa stellte 1939 die „Bodennut-
zungszonen“ Mitteleuropas – unter Einschluss der Ostmark – dar.21 Niehaus maß
dem „Bauernhof [Hervorhebung im Original] als betriebstechnische[r] Einheit“
sowie der „Arbeits- und Lebensgemeinschaft der Bauernfamilie [Hervorhebung
im Original]“ neben den übrigen Bedingungen der Bodennutzung „entscheidende
Bedeutung“ bei : „Die enge Verbindung von Bauernfamilie, Haustieren und Acker
bildet eine in langer Tradition festgeprägte Form der Bodennutzung, die sich auch
weithin gegen ungünstige Bedingungen der Natur und der ökonomischen Umwelt
durchzusetzen vermag.“22 Hier wurde die Fähigkeit zur Selbstorganisation – die
„Autopoesis“23 – des als Organismus konstruierten Haushalts-Betriebs-Systems
gegenüber der naturalen und sozialen Umwelt behauptet.
In ähnlicher Weise, wenn auch mehr auf die Bodennutzung konzentriert, argu-
mentierte Busch gegen frühere Versuche, „Landbauzonen“ allein aufgrund der Ver-
breitung einzelner Kulturpflanzen abzugrenzen :24 „Die Anbauzonen werden aber
dem organischen Anbaugefüge nicht ganz gerecht, sie entsprechen noch nicht der
vollen Wirklichkeit, da eine Kulturpflanze in einem Gebiet niemals allein, sondern
stets in Gemeinschaft mit anderen angebaut wird.“ Daher gelte es, das Augenmerk
„nicht so sehr auf das Anbaugefüge der Landschaft, sondern auf das Wirtschaftssys-
tem des landesüblichen Betriebes [Hervorhebung im Original] [zu] richten“.25 Dabei
folgte er zwar Brinkmanns Modell des landwirtschaftlichen Betriebssystems, passte
es aber terminologisch in die nationalsozialistische Diktion ein : „Der Mensch als
Standortursache und die Natur als Standortbedingung, kurz Blut und Boden, for-
men die Wirtschaft.“26 Um das „betriebswirtschaftliche Gewicht“ der einzelnen
Kulturarten zu bemessen, rechnete er nicht, wie Niehaus, mit reinen, sondern mit
gewichteten Werten ; dabei multiplizierte er die Flächenangaben mit Intensitäts-
zahlen. Mithilfe dieses Kniffs verortete er fünf „Betriebsformen oder -systeme“, die
er nach der jeweiligen Leit- und wichtigsten Begleitkultur benannte : Futterbau-
wirtschaften, Futter-Getreidebauwirtschaften, Getreide-Futterbauwirtschaften,
Getreide-Hackfruchtbauwirtschaften und Hackfrucht-Getreidebauwirtschaften.27
Da der „deutsche Lebensraum“, einer „völkischen“ Raumvorstellung folgend, über
die damals gültigen Staatsgrenzen hinaus reichte, erfasste die Karte der „Landbau-
zonen“ auch das Gebiet Österreichs.28
Aus der metaphorischen Konstruktion des Bauernhofes als „lebenden Orga-
nismus“ folgte als weiterer Gedankenschritt die Frage nach der Gesundheit dieses
Lebewesens. Wir können den oben erwähnten Ratgeber zum Wirtschaftsaufbau
bäuerlicher Betriebe auch lesen als Rezeptur gegen ein aktuelles Krankheitsbild des
„Landvolkes“ : die massenhafte „Landflucht“, welche die Steigerung der landwirt-
schaftlichen Erzeugung gemäß des Vierjahresplans 1936 gefährde. Neben den
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937