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41Die
Konstruktion des „Hoforganismus“
politischen Maßnahmen zur Steuerung des „Arbeitseinsatzes“ propagierte das
Reichskuratorium für Technik in der Landwirtschaft „als eines der wirksamsten
Mittel die Rationalisierung des bäuerlichen Betriebes mit dem Ziel, das Einkom-
men und damit die gesamte Lebenshaltung des Bauern und seiner Hilfskräfte dem
der Stadtbevölkerung anzunähern“. Diese Rationalisierung dürfe jedoch „keines-
falls einseitig einzelne Betriebszweige fördern, ohne den Zusammenhang mit dem
übrigen Betrieb zu berücksichtigen“ ; notwendig sei vielmehr der „planmäßige
Aufbau des Betriebes, der alle Einzelfaktoren berücksichtigt“. Die Lösung die-
ses komplexen Problems setzte genaue Informationen voraus ; oder, um im Bild
zu bleiben, die Therapie des „Landflucht“-Syndroms erforderte eine präzise Diag-
nose : die „genaue Kenntnis des gesamtes Betriebes und der persönlichen Fähigkei-
ten des Bauern und seiner Familie“.29
Dies führt uns zur politisch-ökonomischen Funktion der Agrarstatistik im
„Dritten Reich“. Die amtliche Agrarstatistik entstand, wie die Wirtschaftsstatis-
tik insgesamt, im 19. Jahrhundert als Vermittlerin zwischen dem bürokratischen
Nationalstaat und einer Zivilgesellschaft, in der die Bürger ihre Wirtschaftsinte-
ressen verfolgten. Entsprechend ihrem zunächst liberalen Leitbild versuchte die
amtliche Wirtschaftsstatistik, etwa über das Statistikgeheimnis, das Gleichgewicht
zwischen öffentlichem Verwaltungsinteresse und bürgerlicher Privatsphäre zu hal-
ten. Dieses Verhältnis geriet seit Beginn des 20. Jahrhunderts in eine Schieflage, als
sich der Staat nicht mehr einzelnen Bürgern, sondern organisierten Verbänden von
Unternehmern und Arbeiterschaft auf derselben Augenhöhe gegenüber sah. Die
Wirtschaftsstatistik wurde von einer Wissenschaft mit Autonomieanspruch mehr
und mehr zu einem Instrument staatlicher Wirtschaftssteuerung – eine Entwick-
lung, die in der „totalen“ Planung der Volkswirtschaft im „Dritten Reich“ ins Ex-
trem getrieben wurde.30 Auch die Agrarstatistik, so ein Vertreter des Statistischen
Reichsamts, trat „von der mehr akademischen Stellung von einst in den Vorder-
grund der verwaltungsmäßigen und wirtschaftlichen Erwägungen“.31 Vor diesem
Hintergrund wurde die amtliche Agrarstatistik – die Erhebungen von Bodennut-
zung und Viehwirtschaft sowie die landwirtschaftlichen Betriebszählungen – seit
1933 hinsichtlich Erhebungszeiten, -räumen und -themen ausgeweitet. Zudem
erfuhr die landwirtschaftliche Buchführungsstatistik einen Ausbau ; 1939 waren
im Deutschen Reich etwa 50.000 Betriebe, rund 1,4 Prozent aller Betriebe, durch
die landwirtschaftlichen Buchstellen erfasst.32
Dennoch genügten die Mittel der traditionellen Agrarstatistik nicht den neuen
Zielen und Zwecken. Die „totale“ Wirtschaftsplanung des NS-Staats erforderte,
den Agrarsektor als Planungsgegenstand anders als bisher zu denken : Nicht bloß
die Summe der einzelnen Teile, sondern das Ganze galt es zu erfassen.33 Um diese
betriebliche Ganzheit zu konstruieren, bediente sich die Agrarstatistik einer Me-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937