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43Die
Konstruktion des „Hoforganismus“
Die Hofkarte diente vor allem dem Leistungsvergleich von Betrieb zu Betrieb
sowie für den einzelnen Betrieb von Jahr zu Jahr. Eine Urschrift der Hofkarte
sollte vom Ortsbauernführer zusammen mit dem Betriebsinhaber ausgefüllt, in
einer Sammelmappe der Kreisbauernschaft übermittelt und dort, nach genauer
Prüfung, in eine Kartei übertragen werden. Daneben konnten Betriebsinhaber den
Vordruck der Hofkarte in Form eines handlichen Heftes (Meine Hofkarte) be-
ziehen, um sich durch regelmäßige Eintragungen die Entwicklung des eigenen
Hofes, im Wortsinn, vor Augen zu führen. Die Koppelung von Fremd- und Selbst-
überwachung sollte, so die Statistiker des Reichsnährstandes, die Richtigkeit der
Angaben gewährleisten ; denn die Eintragungen in der Hofkarte dienten nicht nur
zur Bemessung der Forderungen, sondern auch der Förderungen des NS-Agrarap-
parats.38 Der agrarstatistische Doppelblick – von außen wie von innen – glich ei-
nem panopticon, dessen Insassen stets damit rechnen mussten, von außen beobach-
tet zu werden.39 In welchem Maß die Hofkarte die bäuerliche Rechenhaftigkeit
förderte und zugleich forderte, zeigt der Fall eines Bergbauern in Schwarzenbach
an der Pielach, der seine jährlichen Eintragungen in das Hofkarten-Heft bis in die
1950er Jahre fortsetzte und sich später freiwillig für die Buchführung der Land-
wirtschaftskammer zur Verfügung stellte.40
Wie die Hofkarte auf betrieblicher Ebene war auch die Kreiswirtschaftsmappe
auf regionaler Ebene als dezentrale, laufend berichtigte Datensammlung ange-
legt. Für die ständige Fortschreibung wurde ein eigener Nachrichtendienst ein-
gerichtet. Die Kreiswirtschaftsmappe lag in drei Ausfertigungen – eine in der
Kreisbauernschaft, eine in der Landesbauernschaft und eine im Verwaltungsamt
des Reichsbauernführers – vor. Sie versammelte zum einen die Kreisergebnisse
der amtlichen Agrarstatistik, vor allem der letzten landwirtschaftlichen Betriebs-
zählung, der Bodennutzungserhebungen und der Viehzählungen ; zum anderen
enthielt sie die Kreiszahlen statistischer Erhebungen des Reichsnährstandes.
Mithilfe der Kreiswirtschaftsmappe sollte es gelingen, die regionale Vielgestal-
tigkeit des „Wirtschaftshofs Deutschland“ zahlenmäßig zu erfassen.41 Zusam-
men mit der Hofkarte ermöglichte die Kreiswirtschaftsmappe die statistische
Durchleuchtung des ‚nationalen Hofes‘ als organisches Ganzes : „Wie die Kreis-
wirtschaftsmappe in der zahlenmäßigen Erfassung der Wirtschaft vom Ganzen
zum Kreis vorstößt, so musste ergänzend ein Hilfsmittel [die Hofkarte] geschaf-
fen werden, das es ermöglichte, vom Kreis zum Betrieb vorzustoßen.“ Diesen
Vorstoß begriffen die Statistiker des Reichsnährstandes nicht nur als Durchblick,
sondern auch als Durchgriff auf die Teile des Ganzen : „Muß man schon be-
strebt sein, bei der kreisweisen Steuerung der Maßnahmen jeden Schematismus
zu vermeiden, so gilt dies ganz besonders für die Maßnahmen, die den einzelnen
Betrieb betreffen.“42
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937