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48 Anatomie eines „lebenden Organismus“
Zwerg- und kleinbäuerlichen Betrieben erforderte die bestmögliche Versorgung
der Familie, auf kleinen Flächen nachhaltig hohe Erträge – etwa, sofern die kli-
matischen und verkehrstechnischen Voraussetzungen gegeben waren, durch Wein-
oder Gemüsebau
– zu erwirtschaften. Die Abhängigkeit der Produktions- von den
Konsumentscheidungen kehrte sich jedoch in den oberen zwei Größenklassen ten-
denziell um ; hier übertraf der betriebliche Arbeitsaufwand die Leistungskraft der
Besitzerfamilie bei Weitem : Nennenswerte Anteile familienfremder Arbeitskräfte
zeigten bereits die großbäuerlichen Betriebe ; die Großbetriebe wirtschafteten fast
ausschließlich mit Fremdarbeitskräften. Obwohl die Zahlen der nichtständigen
Arbeitskräfte nur eine Momentaufnahme zum Erhebungszeitpunkt bieten, zeigen
sie einige Zusammenhänge auf : Nichtständige Familienarbeitskräfte spielten nur
in den Zwergbetrieben eine Rolle – ein Anzeichen für die Notwendigkeit, das un-
zureichende Betriebseinkommen durch außerbetriebliche Einkünfte aufzubessern.
Je größer der Betrieb im Allgemeinen und die Menge des täglich zu betreuenden
Viehs im Besonderen, desto wichtiger wurden ständige Fremdarbeitskräfte, vor al-
lem Knechte und Mägde. Ebenso wuchs die Bedeutung nichtständiger Fremdar-
beitskräfte, etwa der Taglöhner/-innen und Saisonarbeiter/-innen, mit steigender
Betriebsgröße und schnellte in den Großbetrieben nach oben – ein Hinweis auf
saisonale, mit Familienangehörigen nicht mehr zu bewältigende Arbeitsspitzen,
wie sie etwa Getreide- und, noch ausgeprägter, Zuckerrübenbau verursachten.
Gemessen am Verhältnis der Arbeitskräfte zum Maschinenbestand waren Zwerg-
und kleinbäuerliche Betriebe vergleichsweise gering mechanisiert ; ab einer Be-
triebsgröße von etwa fünf Hektar pendelte sich dieses Verhältnis jedoch ein – ein
Anzeichen für die Ende der 1930er Jahre noch beschränkten Größenvorteile (eco-
nomies of scale) hinsichtlich der Mechanisierung menschlicher Arbeitstätigkeiten
(Abbildung 2.1, Anhang).
Die Ergebnisse der landwirtschaftlichen Betriebszählung 1939 wurden nicht
nur nach Betriebstypen, sondern auch nach Verwaltungseinheiten, den 27 Stadt-
und Landkreisen Niederdonaus, ausgewiesen.52 Auf dieser Grundlage können wir
regionale Agrarsysteme in ihrer natur- und sozialräumlichen Abhängigkeit be-
trachten. Die Zahl der Verwaltungseinheiten, auch nach Zusammenführung der
Stadt- und Landkreise Krems, St. Pölten und Wiener Neustadt, übertrifft mit 24
eine für den Agrarsystem-Vergleich überschaubare Größe. Eine naheliegende Lö-
sung dieses Problems liegt in der Zusammenfassung der Klein- zu Großregio-
nen. Eine zeitgenössische Gliederung der Kreise Niederdonaus nach „natürlichen
Landschaften“ aus der Feder des Agrarökonomen Ludwig Löhr53 dient als Ver-
gleichsfolie für die Gliederung nach Großregionen auf Basis der kleinregionalen
Agrarsystem-Merkmale. Dazu werden die Kreise entsprechend der agrarsystemi-
schen (Un-)Ähnlichkeiten in einem mehrdimensionalen Raum angeordnet ; dabei
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937