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56 Anatomie eines „lebenden Organismus“
mer, „dass in der Landwirtschaftsförderung ähnliche Aufgaben zu bewältigen sind,
wie sie der Organisator einer Landgutswirtschaft zu lösen hat“ – freilich mit der
Einschränkung, dass die Maßnahmen „nur auf dem Umweg über die Besitzer der
Landgutswirtschaften“ zur Geltung kommen könnten.69 Die Buchführung, die
durch den „Zwang zum Rechnen“ den „Blick für die wirtschaftlichen Vorgänge“
schärfe, erschien ihm in diesem Zusammenhang als „beachtenswertes Erziehungs-
mittel“70 – als Koppelung von Selbst- und Fremdsteuerung.
Die Macht des Buchführungsdispositivs stieß jedoch bisweilen in der bäuerli-
chen Wirtschaftslogik an Grenzen
– ein Problem, das auch die Rentabilitätsexper-
ten beschäftigte. Für Steden war dies Anlass, den Reinertrag als Erfolgsmaßstab
in Frage zu stellen : „Es ist gerade in der bäuerlichen Buchführung nicht leicht, der
Vorstellung des Buchführenden den Begriff des Reinertrags vollkommen zugäng-
lich zu machen. Zum Teil liegt dies auch darin, dass der Reinertrag das Wesen
der bäuerlichen Landgutswirtschaft zumindest nicht ausschlaggebend erfasst.“71
Das Problem aus bäuerlicher wie aus Expertensicht bestand darin, dass bei der
Kalkulation des Reinertrags die fiktiven Lohnansprüche der Familienmitglieder
als Betriebsausgaben verbucht wurden. Faktisch wurden jedoch weder den bäu-
erlichen Betriebsbesitzern noch deren Kindern oder sonstigen Familienangehö-
rigen Monats- oder Jahreslöhne in dieser Höhe ausbezahlt. Erst zum Zeitpunkt
des Besitzerwechsels eines Hofes erhielten die Anspruchsberechtigten eine (Teil-)
Entschädigung in Sach- oder Geldwerten für ihre jahre- oder jahrzehntelangen
Arbeitsleistungen.72 Steden, in den Nachkriegsjahren zum Lehrstuhlinhaber an
der Wiener Hochschule für Bodenkultur avanciert, betreute als Konsulent der in
Nachfolge der kammereigenen Buchstellen gegründeten Land- und Forstwirt-
schaftlichen Buchführungs-Gesellschaft (LBG) die Buchführungsstatistik für
Niederösterreich 1937, die zwei Rentabilitätsmaßstäbe enthielt : den Reinertrag als
„objektiven“ und das Einkommen als „subjektiven“ Maßstab. Während im Rein-
ertrag, der Differenz aus Rohertrag und Aufwand, die Lohnansprüche der Famili-
enangehörigen im Rahmen des Personalaufwands abgezogen wurden, waren diese
im Einkommen enthalten ; dabei wurden vier Einkommensarten unterschieden :
Die Summe aus Reinertrag und Lohnanspruch, das Freieinkommen, abzüglich der
Lasten für Ausgedinge und Schuldenzinsen ergab das landwirtschaftliche Ein-
kommen, das vermehrt um das Nebeneinkommen das zu versteuernde Gesamt-
einkommen der bäuerlichen Familie bildete.73 Auf diese Weise trug die Buchfüh-
rungsstatistik, die zunächst die rechnerische Trennung von Haushalt und Betrieb
voraussetzte, schließlich dem als Organismus konstruierten Haushalts-Betriebs-
System Rechnung.
Aus der Logik der Rentabilitätsbestimmung folgte, dass die Buchführungssta-
tistik die erhobenen Merkmale nicht nach Verwaltungseinheiten, sondern nach
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937