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75Höfe
im Fokus der Buchführung
den späten Vegetationsbeginn im Frühjahr und die herbstlichen Frühfröste an-
gepasst. Daher erforderte der Ackerbau, dessen Schwerpunkt auf Feldfutter- und
Hackfruchtbau lag, die Züchtung kälteunempfindlicher, rasch reifender Sorten ;
daneben nahmen Wald und Dauergrünland den Großteil der Kulturfläche ein.
Wie das Alpengebiet zählte auch das hinsichtlich Relief und Klima ähnliche, je-
doch durch Urgesteinsböden geprägte Waldviertel (G) zur oberen baltischen und
subalpinen Vegetationsstufe ; auch hier schien aus vegetationskundlichen Überle-
gungen die „Züchtung besonderer Sorten, die den Anforderungen des harten Kli-
mas gewachsen sein müssen“, unumgänglich.108
Das Augenmerk der Reichsnährstands-Statistiker auf die Bedingungen des
Pflanzenwachstums zur Herleitung landwirtschaftlicher Produktionsgebiete ent-
sprach einer praktikablen Lesart der Organismustheorie des landwirtschaftlichen
Betriebes, die den Hof wie einen lebenden Organismus konstruierte. Auffallend
dabei ist die militaristische Rhetorik
– „Vorposten“, „Vorschreiten“, „Kampfzone“
–,
die den ideologisierten „Kampf um Lebensraum“ in die Natur projiziert, gleichsam
naturalisiert, und dessen Ideologiecharakter verschleiert. Dabei erhalten die endo-
genen Bedingungen von Agrarsystemen gegenüber den exogenen (Natur-)Bedin-
gungen weitaus weniger Aufmerksamkeit. Um die black box des „Hoforganismus“
auszuleuchten, hat das Ökotypen-Modell bereits wichtige Einsichten, vor allem
die Abhängigkeit der Haushaltsgröße und -zusammensetzung vom agrarischen
Produktionsschwerpunkt, eröffnet. Doch um die Beobachtung nicht vorschnell auf
einseitige Abhängigkeiten zu verengen, sollten wir offen sein für Wechselwirkun-
gen : In welcher Weise hing der Betrieb vom Haushalt im Allgemeinen und von
der Besitzerfamilie im Besonderen ab ? Während das Ökotypen-Modell der einen
Richtung folgt, bildet die andere den Ausgangspunkt der Lehre von der bäuerlichen
Wirtschaft Alexander Tschajanows. Ersteres Modell rückt die vieh-, acker- und
weinwirtschaftlichen Erfordernisse des Betriebes, letzteres die am jeweils gelten-
den Bedürfnisniveau orientierten Familienerfordernisse in den Mittelpunkt. Das
Familienwirtschafts-Modell sieht im angestrebten „Gleichgewicht zwischen der
Beschwerlichkeit der Arbeit und dem Maß der Bedürfnisbefriedigung“109 den ent-
scheidenden Antrieb bäuerlichen Wirtschaftens, der die Arbeitenden in Krisenzei-
ten in die „Selbstausbeutung“110 treibt. Einerseits drängen die Konsumbedürfnisse
der im Haushalt lebenden Verbraucher/-innen die Arbeitenden, ihr Pro-Kopf-
Einkommen – und damit das gesamte Familieneinkommen – zu steigern ; ande-
rerseits wird die Verausgabung der Arbeitskraft durch die körperliche Beschwer-
lichkeit begrenzt. Die Jahresarbeitszeit jeder Familienarbeitskraft wird durch das
Abwägen von Kosten und Nutzen jedes zusätzlichen Arbeitstages bestimmt ;
die – auch von äußeren Preisbedingungen abhängige – Grenze wird im Inneren
der Familienwirtschaft so gezogen, dass „die Angestrengtheit, mit der die Familie
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937