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76 Anatomie eines „lebenden Organismus“
während des Jahres arbeitet, dem Maße entsprechen muß, in welchem ihre Bedürf-
nisse befriedigt werden“.111 Dieser als Chayanow’s rule gefasste Zusammenhang
unterscheidet die familienwirtschaftliche Gebrauchswert- von der kapitalistischen
Tauschwertproduktion in Agrarsystemen.112 Freilich setzt diese Regel bestimmte
Bedingungen voraus : die reichliche Verfügbarkeit von Land, die Beschränkung auf
die vorhandenen Familienarbeitskräfte, das Vorherrschen der Subsistenzproduk-
tion.113 Dennoch lässt sich das Familienwirtschafts-Modell auch an die Bedingun-
gen von Landknappheit, familienfremder und außerhäuslicher Lohnarbeit sowie
Marktproduktion anpassen.114
Um den endogenen Agrarsystem-Momenten auf die Spur zu kommen, ent-
werfen wir wiederum den Raum der regionalen Agrarsysteme – diesmal jedoch
nicht auf Basis der Betriebszählungs-Kreisergebnisse, sondern der weitaus präzise-
ren Hofkarten-Sprengelergebnisse. Die Hofkartenstatistik bemisst – entgegen der
Betriebszählung und wie die Buchführungsergebnisse – die AKE für das gesamte
Wirtschaftsjahr ; zudem erfasst sie als einzige Massenerhebung auch die „beköstig-
ten“
– einschließlich der nicht mitarbeitenden
– Familienangehörigen. Im Groben
entpuppen sich wiederum der agrarische Produktionsschwerpunkt mit 32 Prozent
der Gesamtstreuung und das Arbeitskräftearrangement – um den deterministischen
Beiklang der „Arbeitsverfassung“ zu vermeiden
– mit 21 Prozent als Hauptdimen-
sionen (Abbildung 2.10). Feine Unterschiede zeigt jedoch das Arbeitskräftearran-
gement, das nunmehr nicht zwischen den Ökotypen „Taglöhner-“ und „Gesin-
degesellschaft“, sondern zwischen Familienwirtschaft und Gesindebeschäftigung
variiert. In den unteren beiden Ecken tritt überdeutlich die Familienwirtschaft mit
geringen Gesinde- und Taglöhneranteilen hervor. Sie spaltet sich auf nach links
unten in die intensive Familienwirtschaft – etwa die für Weinbaugebiete charak-
teristische „Smallholder-Gesellschaft“ – und nach rechts unten in die extensive
Familienwirtschaft in gemischtwirtschaftlichen Gebieten. Je weiter wir vom un-
teren zum oberen Pol der senkrechten Dimension wandern, umso mehr tritt der
Gesinde- gegenüber dem Familienanteil hervor. Zur rechten oberen Ecke hin stre-
ben wir der viehwirtschaftlich akzentuierten „Gesindegesellschaft“ zu ; in der linken
oberen Ecke nähern wir uns einem getreidebaulich ausgerichteten Arbeitskraftar-
rangement, das sich treffender, als dies das Etikett der „Taglöhnergesellschaft“ ver-
mag, als „Taglöhner-Gesinde-Gesellschaft“ fassen lässt. Auf diese Weise erweitert der
Raum der regionalen Agrarsysteme in Niederdonau und Wien Ende der 1930er
Jahre das mit „Gesinde-“ und „Taglöhnergesellschaft“ zwei- bzw., nach Ergänzung
durch die intensiv-familienwirtschaftliche „Smallholder-Gesellschaft“, dreipolige
Ökotypen-Modell um die extensive Familienwirtschaft als vierten Pol.
Ausgehend vom Ökotypen-Modell haben wir wichtige endogene Agrarsystem-
Momente, vor allem die Abhängigkeit des Arbeitskräftearrangements vom Pro-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937