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131Durchleuchtete
Höfe
Kriegsende erschienene Rechtfertigungsschrift aus der Feder August Lombars, des
Leiters der Landstelle Wien, nahelegt,194 sah sich die Akademikerschaft der Land-
stellen, die als reichsunmittelbare Sonderbehörden für die Entschuldungsaktion in
den Reichsgauen der Ostmark eingerichtet worden waren, als Avantgarde der all-
gemeinen Verwaltung, als eine Art ‚Staatsadel‘.195 Dieser elitär-bürokratische Iden-
titätsentwurf stand wohl in Differenz zu Willkürmaßnahmen von Amtsträgern der
nationalsozialistischen Partei und selbsternannten „Bevollmächtigten“ für diverse
Belange in den ersten Monaten nach dem „Anschluss“.196 Als Agenten des legalen
Normenstaates, denen der dies- und jenseits der Grenze zur Illegalität operierende
Maßnahmenstaat tendenziell suspekt erschien, verkörperten die Landstellenex-
perten ein Organ des nationalsozialistischen „Doppelstaates“.197 Die Schlagkraft
dieses hybriden Machtapparats erwuchs aus dem Zusammenwirken scheinbar wi-
dersprüchlicher Strategien, der akribischen Orientierung an der Vorschrift wie der
skrupellosen Rechtsbeugung im Zuge von Amtshandlungen.
Die Akribie der Landstellenexperten lässt die Besichtigungsprotokolle, trotz al-
ler Verwerfungen, als lohnende Spur zu (unter-)bäuerlichen Wirtschaftsstilen er-
scheinen. Die Materialgrundlage dafür bieten die Betriebsbesichtigungsprotokolle
aus den bereits bekannten Untersuchungsregionen, den AGB Litschau, Mank und
Matzen, sowie, als zusätzlicher Untersuchungsregion, dem AGB Kirchberg an der
Pielach im Landkreis St. Pölten, der dem bislang nicht abgedeckten Produktions-
gebiet Voralpen angehörte.198 Das Gros der 648 Protokolle entstand 1938 bis 1941 ;
nur neun wurden 1942 oder 1943 angelegt. Zunächst müssen die verbalen Beur-
teilungen der Sachbearbeiter in zählbare Einzelmerkmale zerlegt werden. Danach
werden aus den 63 erfassten Einzelmerkmalen 18 aussagekräftige Beurteilungen,
die sich auf die Wirtschaftsstile der beurteilen Betriebsinhaber/-innen beziehen,
ausgewählt. Die beurteilten Fälle und die daran haftenden Merkmale verteilen sich
entsprechend ihrer (Un-)Ähnlichkeiten im zweidimensionalen Raum der amtlichen
Moralökonomie, der rund 65 Prozent der Gesamtstreuung abdeckt. Die erste und
wichtigste Dimension wird durch die Spannung von Nachlässigkeit und Unbe-
holfenheit gegenüber Fleiß und Anspruchslosigkeit bestimmt.199 Diese Moraldi-
mension scheidet den – aus Unwillen oder Unvermögen – ‚schlechten‘ vom ‚guten
Betriebsführer‘. Die zweite Dimension, die sich zwischen den Polen Fortschritt-
lichkeit und Rückständigkeit aufspannt, bildet eine Innovativitätsdimension, die
‚Vorreiter‘ einer als zeitgemäß geltenden Betriebsführung von ‚Nachzüglern‘ un-
terscheidet. Beide Dimensionen zusammen knüpfen den offiziellen Beurteilungs-
maßstab (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens, der nicht nur betriebswirtschaftliche,
sondern auch moralische Momente der Bewirtschafter/-innen ins Kalkül zog (Ab-
bildung 2.29).
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937