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138 Anatomie eines „lebenden Organismus“
der Negativseite wechselten die Vorhalte : „fleißig, aber unbeholfen und energie-
los“,220 „fleißig, doch schwerfällig und geistig wenig regsam“,221 „fleißiger, aber et-
was leichtsinniger Landwirt“.222 Häufig variierten die Sachbearbeiter ihre Urteile
zwischen den Familienangehörigen. In vielen Fällen war es die Frau, die besser
als der oftmals als „schwerfällig“ erscheinende Mann bewertet wurde : „fleißige
Bauern, Mann etwas schwerfällig, Frau sehr tüchtig“,223 „Besitzer etwas schwer-
fällig, Frau viel aufgeweckter“,224 „Besitzer etwas schwerfällig und rückschrittlich,
doch fleißig, Frau tüchtig“.225 Dass die Bäuerin den Bauern an Leitungskompetenz
überragte, galt als Abweichung von der offiziellen Norm männlicher Betriebsfüh-
rung und wurde entsprechend in den Protokollen vermerkt
– vor allem dann, wenn
der Mann in den Betrieb der Frau eingeheiratet hatte : „Antragsteller ist etwas
leichtfertig und willensschwach, seine Frau, die er als Wittfrau und Hofbesitzerin
geheiratet hat, macht einen guten Eindruck.“226 Vergleichsweise selten finden sich
Vermerke über inferiore Frauen : „Frau ist fleißig, aber geistig sehr schwerfällig
und steht ganz unter dem Willen ihres arbeitsamen Mannes.“227 Sofern im amt-
lichen Urteil die Frau besser als der Mann abschnitt, schien der Grundsatz der
„ordnungsmäßigen Wirtschaftsführung“228 in Gefahr. In diesen Fällen setzten die
Sachbearbeiter weniger auf die weibliche Leitungskompetenz als auf die Wirt-
schaftsberatung vonseiten des Reichsnährstandes : „Die Frau ist die geistig regere
und energischere. Dem Bauern muss mit Rat und Tat beigestanden werden. Nur
bei intensiver Wirtschaftsführung in den nächsten Jahren kann die volle Leistung
erzielt werden.“229 Die Einschaltung des Reichsnährstandes war die eine Lösung
des Problems mangelnder männlicher Leitungskompetenz, die baldige Betriebs-
übernahme durch einen Sohn die andere : „Besitzer ziemlich energielos und ab-
gestumpft. Besitzerin ist über die Betriebsverhältnisse viel besser orientiert als der
Mann und ist durch Übernahme des Besitzes durch den ältesten Sohn, die jedoch
nicht sofort möglich ist, eine bessere Bewirtschaftung gewährleistet.“230 War der
als Erbe in Aussicht genommene Sohn eingerückt oder noch zu jung zur Betriebs-
übernahme, wurden beide Lösungen kombiniert – wie etwa im Fall eines wegen
Alkoholismus bemängelten Bauern : „Der Besitzer ist wenig arbeitsam und Gast-
hausgeher. Die Frau sowie der eingerückte Sohn sind sehr tüchtig. Zur Erhaltung
der Wirtschaft bis zur Übergabe an den Sohn ist eine Betreuung angemessen.“231
Fallweise gingen die Sachbearbeiter genauer auf die Umstände bäuerlichen
Fehlverhaltens ein. Ein häufig bemühtes Argument war die Unvereinbarkeit von
Landwirtschaft und außerlandwirtschaftlichem Erwerb, etwa dem Wein- und
Viehhandel : „Die Schulden stammen hauptsächlich aus schlechter Wirtschafts-
führung und Verlusten aus Weinhandel. Der Besitzer kümmerte sich wenig um die
Wirtschaft und ging dem Weinhandel nach. Frau nach Angabe des Ortsbauern-
führers sehr tüchtig und arbeitsam.“232 Die Sachbearbeiter wogen offenbar sorg-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937