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162 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
landwirtschaftlichen „Entjudung“ in Niederdonau den Anteil „arisierter“ Liegen-
schaften an der Gesamtzahl von 1.120 Fällen mit 11,9 Prozent und an der Fläche
von 22.951 Hektar mit 56,9 Prozent ; folglich waren vor allem größere Besitzungen
an „Ariseure“ übertragen worden. Das zeigen auch die unterschiedlichen Durch-
führungsquoten in den einzelnen Kreisen : Gemessen an der Gesamtfläche, war die
„Entjudung“ in Gän sern dorf, Horn, Waidhofen an der Thaya, Zwettl und Gmünd
fast zur Gänze, in Lilienfeld und Mistelbach großteils durchgeführt. Abgesehen
von Gmünd handelte es sich durchwegs um Kreise mit größeren Liegenschaften ;
zudem lagen die meisten dieser Kreise im – siehe die Studie der Deutschen Stu-
dentenschaft – „volkstumspolitisch“ sensiblen Grenzland, was den behördlichen
Aktivitäten zur „Arisierung“ wohl einen zusätzlichen Impetus verlieh (Abbil-
dung 3.2). Hingegen waren die Liegenschaften in den Kreisen mit den gerings-
ten Durchführungsquoten mancherorts extrem zersplittert, so etwa in Nikolsburg,
Znaim, Eisenstadt und Oberpullendorf.
Ein Rechtfertigungsschreiben der Oberen Siedlungsbehörde gegenüber dem
REM wegen der geringen Zahl durchgeführter Verfahren in Niederdonau eröffnet
genauere Einblicke in die Maschinerie der „Entjudung“ : Einerseits argumentierte
der Sachbearbeiter, „daß Ihren Weisungen entsprechend in erster Linie die grö-
ßeren Besitzungen, die vorwiegend für Siedlung in Betracht kommen [Hervorhebung
im Original], behandelt wurden“. Andererseits hätten der Personalmangel in der
eigenen Abteilung und bei anderen Behörden, die mangelhaften Grundbuchs-
und Katasteraufzeichnungen in den bis 1918 zu Ungarn gehörenden Kreisen des
ehemaligen Burgenlandes, die extreme Zersplitterung der Liegenschaften in den
südmährischen Kreisen sowie der Wechsel der Zuständigkeit von der Vermögens-
verkehrsstelle über das Ministerium für Landwirtschaft zur Behörde des Reichs-
statthalters in Niederdonau die Arbeiten enorm verzögert.53 In dem Schreiben nur
zwischen den Zeilen zu lesen war das Eingeständnis, dass die Zug um Zug radi-
kalisierte „Arisierung“ der Landwirtschaft selbst zu einem Hindernis geworden
war. Der überbordende Verwaltungsaufwand des Verfahrens, Meinungsverschie-
denheiten zwischen den beteiligten Behörden und Personalmangel in den Äm-
tern streuten mehr und mehr Sand in das Getriebe des „Entjudungsvorgangs“. Er-
schwerend wirkte auch die mangelnde Kaufkraft bäuerlicher Bewerber/-innen, die
vom Reichsnährstand gegenüber nichtbäuerlichen, aber kapitalkräftigeren Inter-
essenten protegiert wurden. Die größeren, lukrativeren Liegenschaften waren auf
Weisung Berlins bereits bis Ende 1941, vorwiegend durch die DAG als vom REM
beauftragter Abwicklungsstelle für die „Neubildung deutschen Bauerntums“,54
„arisiert“ worden. Von den erworbenen 5.800 Hektar führte die Organisation je-
doch nur 1.600 Hektar oder 28 Prozent bäuerlichen Siedlungsverfahren zu ; der
Rest wurde weisungsgemäß in „Zwischenbewirtschaftung“ genommen.55 Die klei-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937