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173Das
Doppelgesicht der Bodenordnung
Hier spricht ein bodenpolitischer Entscheidungsträger in Niederdonau Klartext.
Danach galt die „Entjudung“ als notwendige Voraussetzung der Aufstockung be-
stehender und Schaffung neuer Erbhöfe. Sein Hinweis auf die „Wehrmachtsum-
siedlung“ führt zu einer weiteren Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von
exklusiver und inklusiver Bodenpolitik. Im Zuge der Anlegung des Truppen-
übungsplatzes Döllersheim im Kreis Zwettl wurden 1938 bis 1942 etwa 7.000
Bewohner/-innen aus knapp 1.400 Häusern in rund 50 Ortschaften in mehreren
Etappen abgesiedelt. Für die Wahl dieses Standortes gaben vor allem ernährungs-
wirtschaftliche, verkehrstechnische und militärstrategische Erwägungen den Aus-
schlag.108 Unter bodenpolitischen Gesichtspunkten zählte der Kreis Zwettl mit
einem Anteil von 63,7 Prozent Betrieben zwischen fünf und 100 Hektar zu den
Gebieten mit der höchsten Erbhofdichte in Niederdonau ; dennoch – oder auch
deswegen
– erfolgte gerade hier ein massiver Eingriff in bäuerliche Besitzrechte.109
Mit der Abwicklung dieser etwa 19.000 Hektar umfassenden Umsiedlungsaktion
beauftragte das Oberkommando des Heeres die als schlagkräftig profilierte DAG,
die vor Ort eine eigene Geschäftsstelle einrichtete.110 Sie führte die anfangs eher
großzügigen Schätzungen der Anwesen und der noch nicht eingebrachten Ernte
durch. Unstimmigkeiten rund um die hochbrisante Umsiedlung sollten durch Ver-
mittlung führender Herrschaftsträger, darunter Reichsstatthalter und NSDAP-
Gauleiter Hugo Jury sowie Landwirtschaftsminister und Landesbauernführer An-
ton Reinthaller, bereinigt werden.111 Bis Ende 1940 siedelten sich 67 Prozent der
Ausgesiedelten wieder im Waldviertel an, 18 Prozent im restlichen Niederdonau, 11
Prozent in Oberdonau, der Rest in Wien und anderen Reichsgauen der Ostmark.
Dabei erfuhr zwar das Zahlenverhältnis der Betriebsgrößengruppen keine wesent-
liche Änderung ; doch ein beträchtlicher Teil der Besitzer/-innen erwarb erheblich
kleinere oder größere Ersatzwirtschaften (Tabelle 3.2). Die Ankäufe der neuen
Höfe erfolgten zunächst vor allem aus Eigeninitiative auf den Grundstücksmarkt,
später zunehmend durch Vermittlung der DAG als Trägerin der staatlichen Sied-
lungspolitik. Das begrenzte Angebot und die steigende Nachfrage ließen die Preise
auf dem Immobilienmarkt anstiegen. Um dieser bodenpolitisch unerwünschten
Entwicklung entgegenzuwirken, suchte die DAG neue Höfe für die Umsiedler/-
innen zu errichten. Von den rund 4.800 Hektar im Waldviertel für Wehrmachts-
zwecke beschafften Ländereien stammte knapp die Hälfte, rund 2.300 Hektar, aus
„Arisierungen“ ; davon fanden rund 800 Hektar als Ersatzland für die Umsiedler/-
innen Verwendung.112 Der hier offensichtliche Konnex zwischen „Arisierung“ und
Erbhofbildung folgte einem wiederkehrenden Argumentationsmuster der DAG :
„Die grenzpolitischen Probleme gerade in der Ostmark sind so außerordentlich
wichtig, dass jede Gelegenheit, ein starkes Bauerntum an die Stelle des bisherigen
jüdischen Großbetriebes zu setzen, ausgenützt werden muss.“113
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937