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Doppelgesicht der Bodenordnung
Die Texte, in denen sich der Leiter der Landwirtschaftsverwaltung in Niederdo-
nau mit den bodenpolitischen Problemen auseinandersetzte, standen im Kontext
des Diskurses um die „ländliche Neuordnung“. Das NS-Regime hatte im „Altreich“
seit 1933 nicht nur die bäuerliche Bevölkerung, sondern den gesamten ländlichen
Raum zum Gegenstand politischer Planung gemacht. Das „Bauerntum“ sollte die
Grundlage der „rassischen Aufartung“ des gesamten „Volkes“ werden. Auf Basis
des REG und des Gesetzes zur „Neubildung deutschen Bauerntums“ wurde die
bäuerliche Rassenzugehörigkeit zum Auslesekriterium der ländlichen Siedlung er-
hoben. Eine „Agrarstrukturreform“ in den dicht bevölkerten Realteilungsgebieten
des Deutschen Reiches sollte die notwendigen Siedlerkontingente freisetzen. War
der Planungshorizont zunächst auf die ostelbischen, vom Großgrundbesitz domi-
nierten Gebiete des Deutschen Reiches beschränkt, erweiterte er sich mit der 1938
beginnenden Expansion Richtung Osten. Dabei stellte die neu institutionalisierte,
umfassend angelegte Raumplanung den Monopolanspruch der traditionellen Ag-
rarpolitik auf den ländlichen Raum zunehmend infrage. Im polykratischen Kom-
petenzstreit um die Führung der ländlichen Siedlungspolitik an der Spitze des
NS-Regimes konnte Heinrich Himmler als „Reichskommissar für die Festigung
deutschen Volkstums“ die neu eroberten Gebiete in Osteuropa seinem Machtbe-
reich einverleiben. Dadurch wurde der Agrarapparat unter Richard W. Darré zwar
auf die ländliche Siedlung im „Altreich“ beschränkt ; doch der Reichsernährungs-
minister und Reichsbauernführer verfügte über wertvolles „rassisches“ Kapital zur
gewaltsamen „Germanisierung“ des Ostens : bäuerliche Siedlerkontingente, die
durch eine umfassende „Agrarstrukturreform“ im „Altreich“ mobilisiert werden
sollten. Durch eine wissenschaftlich angeleitete Planungsoffensive zur „ländlichen
Neuordnung“ im Reichsgebiet seit 1939 konnte Darré vorerst seinen Kompetenz-
bereich verteidigen, geriet jedoch zunehmend in Konflikte mit den regionalen Pla-
nungen einzelner Gauleiter. Erst nach seiner Ablöse 1942 vermochte Himmler die
Kontrolle über die Siedlungsplanung im „Altreich“ an sich zu ziehen.130
Niederdonau zählte zu jenen Reichsgauen, in denen die Planung zur „ländlichen
Neuordnung“ bis 1944 abgeschlossen war ; für den Kreis Oberpullendorf wurde so-
gar eine Detailplanung erstellt.131 Bereits der Leistungsbericht der Landesbauernschaft
Donauland für 1939 und 1940 berichtete über das „Be- und Aussiedlungsverfah-
ren“ : „Zweck dieses Verfahrens ist es, im Reichsgebiet gesunde landwirtschaftliche
Betriebsformen zu schaffen und Menschenmaterial für die Siedlung im Osten und
Westen frei zu bekommen.“132 Unter Koordination durch ein Forschungsinstitut
unter der Leitung des umtriebigen Raumforschers Ludwig Neundörfer wurden für
etwa 10 Prozent der Gemeinden Bestands- und Wunschbildprotokolle angelegt.
Mittels einer ausgefeilten „soziographischen“ Methode entwarfen die Planer, aus-
gehend vom Ist-Stand – dem Bestandsbild – den Soll-Stand – das Wunschbild –
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937