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191Verbäuerlichung
durch „Entjudung
Im Oktober 1938 wandte sich die Vermögensverkehrsstelle Wien an die Landes-
bauernschaft Donauland mit dem Ersuchen, ein laufendes Arisierungsverfahren
„ehest zu prüfen und in die richtigen Bahnen zu lenken“.153 Was war schief ge-
laufen ? Eine Gruppe von 130 Einzelpersonen und Ehepaaren aus Drösing und
Umgebung schloss unter Führung des Rechtsanwalts Matthäus Lehner mit Emil
und Hugo Stein, den in der Tschechoslowakei lebenden Besitzern der Gutshöfe
in Drösing und Eichhorn, einen Kaufvertrag über die beiden Güter ab. Die Guts-
besitzer, die nach reichsdeutschem Recht als „Volljuden“ galten, hatten die Güter
1926 von der Theresianischen Akademie erworben. Nach erheblichen Investitio-
nen in den Gebäude- und Maschinenbestand betrieben sie darauf Getreide- und
Zuckerrübenbau sowie Milch- und Mastviehwirtschaft.154 Die Käufer/-innen
beabsichtigten, die Flächen im Ausmaß von 409 Hektar unter Federführung der
Kreisbauernschaft Gän sern dorf zu parzellieren, aufzuteilen und in Eigenregie zu
bewirtschaften. Im Hinblick auf die erforderlichen Genehmigungen der Behör-
den wurde argumentiert, „Arbeiter, die noch keinen bzw. nur wenig Grundbesitz
haben, und kleine und mittlere Bauern, die noch landbedürftig sind, anzusiedeln
bzw. wirtschaftlich zu festigen, Erbhöfe zu schaffen und selbständige landwirt-
schaftliche Existenzen im Grenzgebiet entstehen zu lassen, die zugleich den si-
chersten Schutz im Grenzland nach außenhin bilden“.155 Die Sachbearbeiter in
der Vermögensverkehrsstelle ließen sich von diesen Argumenten offenbar kaum
beeindrucken ; im Gegenteil : Sie meldeten erhebliche Zweifel an der Finanzier-
barkeit des Kaufes an. Dem laut Anwalt der Kaufwerber/-innen „an sich nicht
hohen Kaufpreis“ von 400.000 Reichsmark standen nur Eigenmittel in der Höhe
von 40.000 Reichsmark gegenüber ; zudem hatten die Antragsteller/-innen einen
sechsprozentigen Wechselkredit über 60.000 Reichsmark aufgenommen ; die rest-
lichen 300.000 Reichsmark, die mit vier Prozent zu verzinsen waren, sollten durch
weitere Kredite finanziert werden
– ein Vorhaben, das wegen des Belastungsverbots
des REG und der Einschränkungen der Kreditaufnahme im Zuge des Entschul-
dungsverfahrens kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Die Kaufwerber/-innen hatten,
um keine Ernteverluste zu erleiden, bereits mit September 1938 die Bewirtschaf-
tung der Güter übernommen ; daher fielen zudem erhebliche Betriebskosten sowie
Gehalts- und Abfertigungszahlungen für das entlassene Gutspersonal an. Schließ-
lich standen mehrere Tausend Reichsmark an Steuern, Gebühren und Anwalts-
honoraren zu Buche. Alles in allem würden laut Kalkulation des Anwalts in den
folgenden Monaten zusätzliche Kosten von 137.000 Reichsmark auflaufen. Neben
dem fragwürdigen Finanzierungsplan mangelte es dem Antrag auch an den not-
wendigen Schätzgutachten und Genehmigungen vonseiten der NSDAP und des
Reichsnährstandes.156 Schließlich erhob der Sachbearbeiter in der Vermögensver-
kehrsstelle auch „rassische“ Vorbehalte gegen einige Kaufwerber/-innen : „Unter
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937