Seite - 220 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
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220 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
Mit dem Übergang von den „Blitzkriegen“ der Deutschen Wehrmacht zum Ab-
nützungskrieg 1941/42 geriet die mangelnde „Wirtschaftsfähigkeit“ der Erb hof-
eigentümer/-innen mehr und mehr ins Visier des Reichsnährstandes. Kreis- und
Landesbauernführer stellten vermehrt entsprechende Aberkennungsanträge, de-
nen von den AEG immer öfter entsprochen wurde. Ein Grund für den verschärf-
ten Kurs lag gewiss in der sich öffnenden Schere zwischen den vorgeschriebenen
und den tatsächlich abgelieferten Mengen an Agrargütern ; darin äußerte sich die
kriegsbedingte Mangelversorgung der (klein- und mittel-)bäuerlichen Betriebe
mit Arbeitskräften und Betriebsmitteln. Zusätzlich angeheizt wurde das Vorgehen
gegen „wirtschaftsunfähige“ Erbhofeigentümer/-innen durch die verschärfte „Er-
zeugungsschlacht“ des Reichsnährstandes, die immer weniger Toleranz gegenüber
mangelnden Ablieferungsleistungen zuließ.268 Spatschil sprach 1942 diesbezüglich
Klartext :
„Es ist daher nur dem Sinne eines nationalsozialistischen Gesetzeswerkes entspre-
chend, daß die Anerbenbehörden in Erfüllung der ihnen gestellten Aufgaben nicht
nur dabei mitzuwirken haben, daß dem einzelnen Bauer Haus und Hof erhalten
bleibe, sondern auch dafür sorgen sollen, schlecht wirtschaftsführenden Bauern den
Hof zu entziehen, denselben bewirtschaften zu lassen und auf diese Weise das Ziel
einer leistungsfähigen Ernährungswirtschaft zu erreichen.“269
Der ernährungswirtschaftliche Pragmatismus der Reichsnährstandsführer und ih-
rer Expertenstäbe hob das bauerntumsideologische Dogma von „Blut und Boden“
zwar nicht auf, vertagte es jedoch auf die Zeit nach dem in weitere Ferne gerückten
„Endsieg“.
Die Gewichtsverlagerung zu Ehrbarkeitsverfahren 1943/44 signalisierte eine
verstärkte Ideologisierung der nationalsozialistischen Bodenpolitik vor Ort, die
neben „wirtschaftsunfähigem“ immer öfter „unehrenhaftes“ Verhalten anprangerte.
Diese Radikalisierung, die neben der Erbhofgerichtsbarkeit auch in anderen Fel-
dern der NS-Herrschaft Platz griff, kennzeichnete die zum „Existenzkampf“ ge-
gen den „Bolschewismus“ ausgerufene Endphase des Krieges.270 Dabei gerieten vor
allem die großbäuerlichen Erbhöfe im AGB Tulln ins Fadenkreuz der Kreisbau-
ernschaft. Der Tullnerfelder Großbauer stand im nationalsozialistischen Diskurs
für den christlichsozialen „Bauernführer“, verkörpert durch ehemalige Funktionäre
des verhassten „Ständestaates“ wie Landwirtschaftsminister, Landeshauptmann
und Bauernbundobmann Josef Reither aus Langenrohr oder Bauernbunddirektor
Leopold Figl aus Rust.271 Ob diese Projektion hier eine Rolle spielte, kann auf
Basis der Erbhofgerichtsakten nicht geklärt werden. Jedenfalls kennzeichnete auf
politische und wirtschaftliche Autonomie pochenden „Herrenbauern“ eine gestei-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937