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260 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Gegen die drohende Klassenspaltung auf dem Land, vor allem die parteipoli-
tische Mobilisierung der „unvollendeten Klasse“24 der Landarbeiterschaft, wandte
sich Heinrich Sohnrey, dessen publizistisches Werk den Landfluchtdiskurs öffent-
lichkeitswirksam entfachte. Der Autor erhob in seiner 1894 erschienenen Pro-
grammschrift Der Zug vom Lande und die soziale Revolution die „Landflucht“ von ei-
ner sozialökonomischen Fach- zu einer staats- und volkspolitischen Existenzfrage.
Seine antiliberalistische, vor allem aber prononciert antisozialistische Stoßrichtung
verschmolz mit Antiurbanismus und Antislawismus zu einem christlich-konser-
vativen Heilsentwurf gegen die großindustriell-massendemokratische Spielart der
Moderne. Dabei knüpfte er an die Bauerntumsideologie Wilhelm Heinrich Riehls
sowie die sozialbiologische Verstädterungstheorie Georg Hansens und Otto Am-
mons an.25 Im auf Sohnreys Betreiben hin 1896 gegründeten Deutschen Verein für
ländliche Wohlfahrts- und Heimatpflege etablierten Großgrundbesitz, Bildungs-
bürgertum und Ministerialbürokratie eine staatsnahe Organisation, um – anstelle
der gegen die Industrieinteressen kaum durchsetzbaren Maximalforderungen der
Agrarier (Einschränkung der Freizügigkeit, Verstaatlichung des Getreideaußen-
handels, Einführung der Gold-Silber-Doppelwährung usw.) – die „Landflucht“
durch Reformansätze wie die bäuerliche Siedlungs- und Genossenschaftsbewe-
gung, „Heimat“-Publizistik und Jugendarbeit in geordnete Bahnen zu lenken.26
„Landflucht“ wurde seit ihrer Erfindung als agrarromantischer Kampfbegriff in
den 1890er Jahren zum Fixpunkt akademischer und populärer Debatten um „Bau-
erntum“ und „Landvolk“ in den Folgejahrzehnten. Dabei ging es stets um mehr als
(agrar-)ökonomische Aspekte ; der Agrar- und Landbevölkerung wurde ein auße-
rökonomischer Mehrwert – als „Basis“, „Keimzelle“ oder „Jungbrunnen“ von „Na-
tion“, „Volk“ oder „Rasse“ – zugemessen.27 In den Debattenbeiträgen vermisch-
ten sich häufig zwei voneinander getrennte Phänomene : die regionale Mobilität
der Land-Stadt- und Land-Land-Wanderung sowie die sektorale Mobilität des
Berufswechsels von der Land- und Forstwirtschaft in andere Wirtschaftszweige.
Folglich wurde vorgeschlagen, im Rahmen eines weiten Landfluchtbegriffs die
„Landflucht“ im engeren Sinn, einschließlich der alpinen „Höhenflucht“,28 von der
„Landwirtschaftsflucht“29 zu scheiden.30
Was die Brisanz der Debatte um die „Landflucht“ in der Ostmark ausmachte,
war weniger die Richtung, sondern das Ausmaß der Abwanderung. So diagnosti-
zierte Landwirtschaftsminister und Landesbauernführer Anton Reinthaller bereits
im Juni 1938 pathologisierend eine „Landflucht-Psychose“.31 Als therapeutischer
Befund diente eine von ihm in Auftrag gegebene Erhebung über 2.520 Bauernbe-
triebe in 33 Ortsbauernschaften, die aus 18 Kreisen der Landesbauernschaft Do-
nauland stammten (Tabelle 4.1). Danach verließen im Durchschnitt 22 Prozent,
in Extremfällen bis zur Hälfte der familienfremden Arbeitskräfte innerhalb eines
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937