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266 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Appeasement“47 des NS-Regimes das Massenvertrauen des „Landvolkes“ nach-
haltig festigte. Immerhin vermochte es, vor dem Erfahrungshintergrund brüchi-
ger Patron-Klient-Beziehungen und nachhinkender arbeits- und sozialrechtlicher
Absicherung in den 1930er Jahren, wohlfahrtsstaatliche Erwartungshorizonte zu
öffnen : „Der Hitler ist kema, wie a Hergot für die kloan Leit.“48
Der weniger ideokratische als technokratische Lösungsansatz Löhrs folgte der
Linie, die sich im deutschen Raumforschungsdiskurs der späten 1930er, frühen
1940er Jahre durchgesetzt hatte. Mit dem Schwenk von der exemplarischen „Bau-
erntums“- und Dorfforschung zur flächendeckenden, in großangelegten Enqueten
organisierten „Landvolk“- und Regionalforschung band sich die Raumforschung
als „Planungswissenschaft“ eng an den Staatsapparat.49 Etwa zeitgleich mit dem
Reichsbauerntag 1938 fasste die 1935 gegründete Reichsarbeitsgemeinschaft für
Raumordnung (RAG) der deutschen Hochschulen unter machtbewusster Führung
Konrad Meyers50 den Plan für eine umfassende Bestandsaufnahme der „ländli-
chen Arbeitsverfassung“, die den Fokus auf die Landfluchtfrage richten sollte.51
Zunächst grenzt der Raumforschungsdiskurs das, was „Landflucht“ sei, von dem
ab, was sie nicht sei : „Es ist dabei weniger die Abneigung gegen das Land oder
gegen die Landarbeit an sich, die das Landvolk vom Lande treibt, ebensowenig wie
es die Städte mit ihren Filmpalästen oder sonstigen Verlockungen sind, die den
Menschen aus der Landwirtschaft fort und dann meistens in die Stadt ziehen.“
Dabei wird der „deutsche Bauer“, das zentrale Diskurssubjekt, vom Verdacht der
„Landflüchtigkeit“ entlastet – und darüber in seiner moralökonomischen Integri-
tät legitimiert. Damit positioniert sich die Debatte – konträr zum ideokratischen
Appell des Reichsbauernführers am Reichsbauertag 1938
– auf einer (sozial-)tech-
nokratischen Ebene. Das Schlagwort „Landflucht“ sei durch „Flucht aus der Land-
wirtschaft“ – genauer, „Flucht der Unselbständigen im Landvolk“ im Allgemei-
nen, „Ledigenflucht“ im Besonderen – zu ersetzen. Damit fokussiert der Diskurs
auf zwei als problematisch erachtete Subjekte : erstens jene Grundbesitzer/-innen
(einschließlich der „Zwerg“-, „Kümmer“- und „Arbeiterbauern“), die „keine ausrei-
chenden Lebensmöglichkeiten für sich und ihre Familie“ finden könnten ; zweitens
jene Landarbeitskräfte, denen bislang keine „Möglichkeit zu angemessener Fami-
liengründung, geschweige denn zu einer normalen beruflichen Weiterentwick-
lung“ geboten worden sei. Weniger die mentale Stimmung, als die soziale Lage der
„Landflüchtigen“ bilde die wesentliche Triebkraft des Übels. Dies sei wiederum
Ausdruck der „seit langem bestehenden und daher nur langsam zu beseitigenden
Unterbewertung der Arbeit in der Landwirtschaft“ gegenüber den anderen Wirt-
schaftszweigen.52
Entsprechend der Eigendefinition als Planungswissenschaft im Dienst des NS-
Staates erörtert der Raumplanungsdiskurs zur Landfluchtfrage nicht nur Ursachen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937