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274 „Menschenökonomie“ unter Zwang
„Landwirtschaftsflucht“ nicht – wie in der auf die ostelbische Gutswirtschaft fo-
kussierten Debatte der 1890er Jahre – auf ein einzelnes Agrarsystem zurückfüh-
ren. Alles in allem lassen sich zwei Profile von aus der Land- und Forstwirtschaft
abwandernden Arbeitskräften erkennen : erstens teils im Gesindestatus, teils als
Lohnarbeiter ständig beschäftigte familienfremde Arbeitskräfte in Mittel- und
Großbetrieben, die kaum über berufliche und familiäre Aufstiegschancen verfüg-
ten und sich der Saisonalisierung der Beschäftigungsverhältnisse aufgrund zu-
nehmender Mechanisierung ausgesetzt sahen ; zweitens Angehörige kleinerer, oft
agrarisch-industriellen Erwerb kombinierender Familienwirtschaften, welche die
bäuerliche Selbstausbeutung gegen attraktivere Arbeits- und Lebensbedingungen
als Lohnabhängige im Industrie- und Dienstleistungsbereich einzutauschen trach-
teten.74
Sowohl auf Gau- als auch auf Reichsebene lässt sich das Landfluchtproblem in
der Ostmark im Allgemeinen, in Niederdonau im Besonderen mittels der amtli-
chen Statistik entzaubern. Wie aber geht dies mit den offenkundig dazu in Wider-
spruch stehenden Ergebnissen der ministeriellen Erhebung zur „Landwirtschafts-
flucht“ in der Landesbauernschaft Donauland zusammen ? In den 1930er Jahren
wurde eine deutliche Zunahme der Beschäftigten in der Land- und Forstwirt-
schaft verzeichnet. Zwischen 1902 und 1930 verringerten sich auf dem Gebiet der
Republik Österreich die Zahlen der Betriebsleiter/-innen und des familienfremden
Gesindes um 18 bzw. 28 Prozent ; demgegenüber stieg die Zahl der mithelfenden
Familienangehörigen um 47 Prozent, also um knapp die Hälfte. Neben dem Weg-
fall der dreijährigen Militärdienstzeit der männlichen Familienangehörigen trie-
ben die Industrie- und Gewerbekrise der 1930er Jahre sowie die Bestrebungen der
christlichsozialen Agrarpolitik, die Zahl der ausländischen Saisonarbeiter/-innen
zurückzudrängen und ehemalige Landarbeiter/-innen aus dem Inland wieder der
Landwirtschaft zuzuführen, diese Entwicklung an. Angesichts der tristen Aussich-
ten auf dem industriell-gewerblichen Arbeitsmarkt verblieben mehr Bauernsöhne
und -töchter auf den elterlichen Höfen ; zudem suchten Lohnabhängige aus Indus-
trie und Gewerbe, um der Massenarbeitslosigkeit zu entgehen, Beschäftigung in
der Land- und Forstwirtschaft oder betrieben agrarische Selbstversorgung.75 Wie
der Vergleich der land- und forstwirtschaftlichen Wohnbevölkerung 1934 und
1939 zeigt, fand der Zug zu agrarischen Beschäftigungen bis zum „Anschluss“ eine
Fortsetzung. Erst danach setzte eine massive Abwanderung oder, genauer, Rück-
wanderung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in den durch die Rüstungskonjunk-
tur angeheizten Industrie- und Gewerbesektor ein. Obwohl die „Landwirtschafts-
flucht“ laut ministerieller Erhebung zwischen Jänner 1938 und Jänner 1939 knapp
fast ein Zehntel der Landarbeitskräfte erfasst hatte, übertraf die Häufigkeit der
Agrarbevölkerung auf dem Gebiet Niederdonaus im Mai 1939 noch immer deren
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937