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302 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Verliefen die Linien im Konflikt um die Sonntagsarbeit zwischen Dienstgeber/-
innen und Bediensteten, so fanden sich in der Auseinandersetzung um die Ein-
haltung der Feiertage häufig beide auf derselben Seite wieder. Für 1942 mehren
sich die Berichte, dass die Einhaltung der „Bauernfeiertage“, der nicht gesetzlich
anerkannten Feiertage des katholischen Kirchenjahres, aufseiten der nichtbäuerli-
chen Bevölkerung Kritik hervorgerufen habe. Ironisch wies der Landrat Melk im
Mai 1942 darauf hin, „dass nach Ansicht der Bevölkerung der Mangel an Arbeits-
kräften nicht so arg sein könne, da die Bauern jeden Bauernfeiertag feiern und an
diesen Tagen sowohl die Kriegsgefangenen als auch die ausländischen Arbeiter
mitfeiern lassen“.162 Nicht nur Inländer/-innen, sondern auch innerhalb und au-
ßerhalb der Landwirtschaft eingesetzte Ausländer/-innen hätten dagegen Wider-
spruch erhoben :
„In den einen Betrieben feiern die Arbeiter, in den anderen müssen sie arbeiten. Die
feiernden Arbeiter kommen dann auf Besuch und halten auch noch die anderen von
der Arbeit auf. Jene, die arbeiten müssen, sind dann an solchen Tagen arbeitsunwillig
und es kommt zu Reibereien.“163
Diese Allianz in- und ausländischer Arbeitskräfte verweist auf eine Reibungsfläche
zwischen bäuerlichem Milieu und nationalsozialistischer Herrschaft. Der arbeits-
freie Kirchenfeiertag mit dem gemeinsamen Messbesuch von Familienangehöri-
gen und Gesinde gehörte, über seine religiöse Bedeutung hinaus, zur bäuerlichen
Inszenierung häuslicher Herrschaft ; er war aber auch Teil der moralökonomi-
schen Ansprüche der Dienstboten und Dienstbotinnen auf ‚gerechte‘ Arbeits-
zeit. Dieses paternalistische Deutungs- und Handlungsmuster, das die „Ehre“ der
Dienstgeber/-innen wie die Arbeitsmoral der Bediensteten stärkte, schloss fall-
weise auch ausländische Arbeitskräfte ein.164 Das NS-Regime hingegen trachtete
danach, die religiös unterfütterte Hegemonie des bäuerlich-katholischen Milieus
aufzubrechen ; daher erschien aus behördlicher Sicht die Einhaltung katholischer
Feiertage vielfach als oppositioneller Akt165 – dies umso mehr, als dadurch die ras-
sistisch motivierte Ausgrenzung der „Fremdvölkischen“ unterlaufen wurde.
Die Formel vom „Arbeitseinsatz“ bezog sich auf ein komplexes Bündel von Be-
ziehungen zwischen den Menschen auf den Höfen. Die Ressourcen der Arbeiten-
den – Gesundheit und Wohlbefinden, Kraft und Ausdauer, Wissen und Können,
Verlässlichkeit und Motivation – vollständig in den Dienst der deutschen Kriegs-
wirtschaft zu stellen, bildete das Leitmotiv des „Arbeitseinsatzes“ im Allgemei-
nen, des Einsatzes der Ausländer/-innen im Besonderen : „Die Arbeitskraft dieser
Leute muß in größtem Maße ausgenutzt werden“,166 lautete die programmatische
Vorgabe des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom April 1942 be-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937