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Arbeit als alltägliches Kräftefeld
angewachsene Kontingent bestätigte.216 Auf Veranlassung des Reichsstatthalters
Niederdonau vom Juli 1944 wurden die Landräte zur Vorlage eigener Erfahrungs-
berichte über den „Arbeitseinsatz von Juden“ aufgefordert, die in ihrer Gesamtheit
ein variantenreiches Bild zeichnen. Die erste Rückmeldung, der Bericht des Land-
rats Baden vom August 1944, enthält präzise Einschätzungen der „Leistungsfähig-
keit“ der ungarisch-jüdischen Arbeitskräfte. Von den 109 in der Gutsverwaltung
Drasche-Wartinberg in Ebreichsdorf eingesetzten Jüdinnen und Juden galten 53
als „einsatzfähig“, die übrigen wegen ihres Alters, ihrer Jugend oder Krankheiten
als „nicht einsatzfähig“. Die Arbeitsfähigen seien zwar „willig, jedoch infolge der
ungewohnten Beschäftigung minder einsatzfähig. Ihre Arbeitsleistung kommt un-
gefähr 25 % der eines Ostarbeiters gleich.“ Die 68 Jüdinnen und Juden der Eszter-
házyschen Gutsverwaltung in Pottendorf, von denen 26 altersbedingt arbeitsunfä-
hig seien, arbeiteten laut Aussage des Betriebsführers „zufriedenstellend“. Über die
zur Beseitigung von Hochwasserschäden in Weissenbach an der Triesting und Al-
tenmarkt an der Triesting eingesetzten Arbeitskräfte heißt es : „Bei entsprechender
Beaufsichtigung zeigten sie im Allgemeinen keinen Arbeitsunwillen, doch war die
Leistung äußerst gering.“ Und : „Mit Rücksicht auf den Umstand, daß die Juden
nicht gewohnt sind, schwere körperliche Arbeit zu verrichten, kann ihre Arbeits-
leistung als befriedigend bezeichnet werden. Anstände haben sich nicht ergeben.“
Den 49 in der Landwirtschaft und Gärtnerei des Stiftes Heiligenkreuz eingesetz-
ten Jüdinnen und Juden wird bei „ununterbrochener Aufsicht“ eine „verhältnis-
mäßig geringe Leistung“ bescheinigt, die etwa ein Drittel jener eines deutschen
Arbeiters betrage.217 Im Spektrum zwischen Anerkennung und Disqualifizierung
bewegten sich auch die eingehenden Urteile der übrigen Landräte.218
Willig, aber überfordert – so lässt sich, grob gesprochen, das Bild beschreiben,
das in den Landratsberichten über die Arbeitsleistungen der „ungarischen Juden“
in der Land- und Forstwirtschaft vorherrscht. Diese zeitgenössische Beschreibung
der Beobachter korrespondiert zum Teil mit den nachträglichen Beschreibungen
der Beobachteten. Die Angehörigen der nach Niederdonau deportierten unga-
risch-jüdischen Familien deuten die Arbeit in den Wäldern und auf den Feldern
im Kontrast zur möglichen Deportation nach Auschwitz vielfach als das gerin-
gere Übel.219 Trotz mangelnder Kraft und Ausdauer, Kenntnisse und Fertigkeiten
schienen fast alle – auch jene, die für die land- und forstwirtschaftliche Arbeit
zu alt, zu jung oder zu krank waren – bemüht, den Anforderungen bestmöglich
zu entsprechen. Doch das Bild, das die Beobachter vor Ort und, über deren Ver-
mittlung, die Landräte entwerfen, enthält neben realen Beschreibungen auch
imaginäre – hier : antisemitische – Zuschreibungen. Der Landrat Amstetten etwa
illustriert die „denkbar schlechten“ Erfahrungen folgendermaßen : „Diese Jammer-
gestalten, die morgens und abends durch die Straßen ziehen, erregen bei der Be-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937