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328 „Menschenökonomie“ unter Zwang
kräfte. Nach der Reichstarifordnung vom Juni 1944 lagen die Sätze für Polen ohne
Leistungszulagen um 35 bis 51 Prozent und für Polinnen um 24 bis 42 Prozent
unter jenen inländischer Normal-Arbeitskräfte ; mit der höchsten Leistungszu-
lage verminderten sich diese Unterschiede auf 17 bis 37 Prozent bei Männern
und 9 bis 31 Prozent bei Frauen. Diesen Ergebnissen zufolge verringerten sich
zwischen dem ersten und fünften Kriegsjahr die Abstände zwischen den gesetz-
lichen Bruttolöhnen inländischer und polnischer Landarbeiter/-innen, vor allem
unter den qualifizierten Arbeitskräften. Zugleich verkleinerten sich auch die Ab-
stände zwischen den Bruttolöhnen polnischer Männer und Frauen von 36 Prozent
1940 auf 21 Prozent, im Fall der höchsten Leistungszulage sogar auf 17 Prozent,
1944. Ähnliche Tendenzen zeigt die Entlohnung der „Ostarbeiter“ zwischen 1941
und 1943. Innerhalb der Entgelte der Kriegsgefangenen nahmen die – allerdings
nach wie vor beträchtlichen – Lohnabstände zwischen Sowjetbürgern, Polen und
Gefangenen anderer Nationen ab. Diese Tendenzen einer merklichen, wenn auch
beschränkten Angleichung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass rassen- und
geschlechterspezifische Lohnunterschiede in der Landwirtschaft – abgesehen von
der praktisch nicht mehr wirksamen Lohnangleichung von in- und ausländischen
Arbeiter/-innen im März 1945
– während der gesamten Kriegsdauer in Kraft blie-
ben. Sie erscheinen als Ausdruck der Strategie von Militär- und Zivilverwaltung,
die leistungshemmenden Zumutungen des zwangsweisen „Ausländereinsatzes“
durch leistungsfördernde Anreize zu ergänzen.
Inwieweit die gesetzlichen Normen auch in der Alltagspraxis griffen, ist damit
freilich noch nicht gesagt ; hier öffneten sich erhebliche Manövrierräume. Wenn in
den behördlichen Berichten die Frage der Entlohnung zur Sprache kam, dann fast
ausschließlich im Zusammenhang mit Unstimmigkeiten. Bereits mit dem „Polen-
einsatz“ im Winter 1939/40 setzte eine Debatte um die von der Reichstariford-
nung vom Jänner 1940 festgesetzten, gegenüber den ortsüblichen Löhnen erheb-
lich niedrigeren Sätze ein. Besonders dramatisch schildert der GP Göpfritz an
der Wild im Februar 1940 die „fortwährenden Geldforderungen“ der polnischen
Arbeitskräfte : „Die Leute wollen absolut nicht glauben, dass sie um den von der
Kreisbauernschaft festgesetzten Lohn arbeiten müssen und sind der Meinung, dass
diese Löhne von den einzelnen Ortsbauernführern ausgemacht wurden.“ Dagegen
wünschten die Betriebsinhaber/-innen, „dass von der Kreisbauernschaft endlich
einmal jemand herunterkommt und die Besitzer mit ihren poln. Arbeitern an ei-
nem Ort zusammenruft und die Arbeiter über ihre Pflichten und Rechte entspre-
chend belehrt“.259 Während die polnischen Arbeitskräfte die freie Vereinbarkeit
der Lohnhöhe einforderten, beriefen sich die Ortsbauernführer und ihre Klientel
auf die Autorität der Kreisbauernschaft. Der Wunsch, ein Vertreter der Kreisbau-
ernschaft – und nicht der Ortsbauernführer selbst – solle den „Polen“ die Lohn-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937