Seite - 342 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 342 -
Text der Seite - 342 -
342 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Niederdonau beschäftigte sowjetische Zivilarbeiterin Marija Michailovna Lykova
erinnert : „Wenn ich auch Geld bekommen hätte, ich hatte keine Marken, sie ha-
ben selbst wenig Marken bekommen, also deswegen brauchte ich kein Geld, weil
man für alles Marken brauchte.“318 Da sie den Geldlohn auf dem legalen Kon-
sumgütermarkt nicht verausgaben konnte, bewertet sie aus heutiger Perspektive
den damaligen Vorenthalt des Lohnes nicht als Unrecht. Versuche, sich auf ille-
gale Weise mit Nahrung zu versorgen, wurden vor dem Gesetz als „Fälschungen
von Lebensmittelkarten“319, „Kameradschafts-“, „Feld-“ und „Wilddiebstähle“,320
„Schleichhandel“ oder Betteln321 kriminalisiert. Konnte in der Dorfgemeinschaft
der Diebstahl aus Not für inländische Landarbeiter/-innen noch als moralisch ge-
rechtfertigt gelten,322 waren dieses Deliktes beschuldigte Ausländer/-innen den
Sanktionen zumeist hilflos ausgeliefert. Solche massenhaft vorliegenden Delikte
widerlegen die Vorstellung einer solidarischen „Selbstversorgergemeinschaft“. Die
dörflich kontrollierte Reziprozität zwischen dem bäuerlichen Patron und dessen
Klientel hatte sich durch die beginnende Klassenbildung der Landarbeiterschaft
während der 1920er und 1930er Jahre bereits gelockert ;323 dies galt umso mehr für
die per Gesetz aus den Solidargemeinschaften ausgeschlossenen Ausländer/-innen.
Dennoch waren der Willkür Grenzen gesetzt : Das Bestreben der Dienstgeber/-in-
nen, die Leistungsbereitschaft der ausländischen Bediensteten durch ausreichende
Ernährung zu sichern, traf sich mit deren Bestreben, das eigene Überleben durch
zufriedenstellende Leistungen zu sichern.
Die Debatten um die Verpflegung der ausländischen Landarbeiter/-innen um-
fassten neben der Nährstoffzufuhr die daran geknüpften Beziehungen zu Deut-
schen. Für die Lagerangehörigen und die Beschäftigten von Groß- und Gutsbe-
trieben bestand in der Regel die Trennung vom Tisch der Dienstgeber/-innen oder
Vorgesetzten. In bäuerlichen Klein- und Mittelbetrieben schien jedoch – schon
allein aufgrund des knappen Wohnraumes – das gemeinsame Mahl der Beschäf-
tigten naheliegend.324 Mit dem Einsatz polnischer Arbeitskräfte ab 1939 wurde
die Tischgemeinschaft kriminalisiert : Das gemeinsame Essen der „arischen“
Dienstgeber/-innen und „fremdvölkischen“ Bediensteten erschien als „verbotener
Umgang“.325 Wort und Bild führten der Bevölkerung die verordnete Apartheid
immer wieder sinnfällig vor Augen (Abbildung 4.16) : „Nur der deutsche Volksge-
nosse gehört in unsere Tischgemeinschaft !“
Bis zum Kriegsende rissen die Klagen von Polizei- und Parteidienststellen über
die verbotene Tischgemeinschaft von In- und Ausländer/-innen nicht ab. Neben
der ideologischen Brille der Amtsträger kommt manchmal, wie etwa in einem
Gendarmeriebericht aus dem Kreis Amstetten vom Juni 1942, auch die pragmati-
sche Sicht der Landbevölkerung zur Sprache :
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937