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354 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Es liegt nahe, die Entfamilisierung der betrieblichen Arbeitskräftebasis mit den
zunehmenden Einrückungen von männlichen Familienangehörigen zur Deut-
schen Wehrmacht in Verbindung zu bringen. Da die Kleinbetriebslisten und Hof-
karten nur ausnahmsweise direkte Hinweise auf Militärdienstleistungen enthalten,
sind wir in der Regel auf den indirekten Weg über die Geschlechtszugehörigkeit
der Familienarbeitskräfte angewiesen. Doch die Kleinbetriebslisten erlauben da-
rauf keine Rückschlüsse ; daher beschränken wir diese Auswertung auf die 932
durch Hofkarten dokumentierten Betriebe. Durch den Wegfall der Kleinbetriebe
müssen wir die Arbeiter- und Weinhauerfamilien wegen fehlender oder zu gerin-
ger Fallzahlen ausklammern. Unter diesen Einschränkungen kann der vermutete
Zusammenhang von Entfamilisierung und Militärdienstleistung erhärtet werden
(Tabelle 4.16) : Alles in allem verringerte sich 1942 das betriebliche Arbeitskraft-
potenzial von 1941 durch den Abgang männlicher Familienangehöriger erheblich ;
der Gesamtsaldo wurde durch den Zugang von Frauen etwas gemildert, bleib aber
deutlich im Minus. Zwar konnte 1943 der Frauenzuwachs das Ausscheiden von
Männern aus den Betrieben ausgleichen. Doch 1944 überwog wiederum der Ab-
zug männlicher den Zuzug weiblicher Familienangehöriger. Nach Agrarsystemen
und Regionen betrachtet, setzte sich in der Regel, von wenigen Ausnahmen abge-
sehen, die Gewichtsverlagerung in den Bauernfamilien von Männern zu Frauen
fort.
Während der männliche Exodus auf die 1941 massiven, 1942 etwas gemilderten
und 1944 abermals verschärften Einziehungen zur Deutschen Wehrmacht bezo-
gen werden kann, gibt der weibliche Zuzug in die Bauernfamilien einige Rätsel
auf. Zwar kann nur vermutet werden, woher die weiblichen Familienangehöri-
gen kamen ; so ist im Fall der Gewerbebauern der Wechsel vom Gewerbe- in den
Landwirtschaftsbetrieb und retour wahrscheinlich. Doch legen die beachtlichen
Zuwächse von zur Familie gehörigen Frauen die flexible Mobilisierung von Ar-
beitskraftreserven über Verwandtschaftsnetzwerke nahe. Folglich waren Bluts-
verwandtschafts- und Schwägerschaftsbeziehungen für Bauernfamilien überaus
wertvolle Ressourcen, über die, je nach aktueller Notwendigkeit, vorzugsweise
weibliche Arbeitskraft aus dem Betrieb ausgelagert oder einbezogen wurde. Frauen
aus der engeren Verwandtschaft wurden als flexible „Schlüsselvariable“337 bäuer-
lichen Wirtschaftens unter prekären Bedingungen mobilisiert. Das Sozialkapi-
tal der (weiblichen) Verwandtschaft erleichterte wesentlich die Bewältigung der
Arbeitsanforderungen, die während der Kriegszeit auf den Schultern der „Land-
frauen“ – vor allem der Bäuerinnen in Leitungsfunktion – lasteten.338
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937