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378 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
Das „rein Technische“ reiche nicht für den Einsatz der Melkmaschine im bäuerli-
chen Betrieb ; entscheidend sei die „innere Verbindung“ mit dem bäuerlichen „We-
sen“, die im Fall des Melkers über dessen Vertrautheit im Umgang mit den Kühen
hergestellt werde. Um von diesem konkreten Fall zu abstrahieren : Die Technik
dürfe nicht die Herrschaft über die Menschen erlangen ; sie müsse, umgekehrt,
den menschlichen Bedürfnisses dienen. Auf diese Weise gewinnt ein dritter Weg
zwischen technikfeindlichem Anti-Modernismus und technikeuphorischem Mo-
dernismus Kontur : eine Art Verbindung oder, besser, Versöhnung von Tradition
und Moderne. Die Umdeutung des Technischen von einem Teil der ‚fremden‘,
westlichen „Zivilisation“ zu einem Teil der ‚eigenen‘, deutschen „Kultur“ im Tech-
nikdiskurs der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ kann als reactionary
modernism gefasst werden.9 Freilich erscheint der „reaktionäre Modernismus“ als
wissenschaftlicher Begriff zweifelhaft, weil er vom Widerspruch zwischen anti-
aufklärerischem und pro-technischem Denken ausgeht und folglich deren Verbin-
dung als „paradox“ wertet ;10 doch trifft er die Logik agrartechnischer Eliten in der
NS-Ära, die sich etwa im Fall Meisels aus genau diesem Widerspruch konstitu-
ierte. So gesehen verfehlt die in der Forschung verbreitete Ansicht : „Die Mechani-
sierung der Landwirtschaft stand quer zur Bauernmythologie“11 die hegemoniale
Logik des „reaktionären Modernismus“, der Mechanisches und Organisches zu
versöhnen suchte. Die Metapher der Landmaschine als „wirkungsvoller Helfer“
des Bauern löst den Widerspruch von „Bauerntum“ und Technik in einer harmo-
nischen Verbindung auf.12
Angesichts der politisch-ökonomischen Lage der österreichischen Landwirt-
schaft nach dem „Anschluss“ – der Kluft zwischen Extensivierungstendenzen und
Intensivierungskurs – erschien den Entscheidungsträgern im Agrarapparat die
Steigerung des Technikeinsatzes als Gebot der Stunde. Meisel sprach 1941 diesbe-
züglich Klartext : „Alle diese Umstände veranlassen nicht nur, sie zwingen vielmehr
die Landwirtschaft, in weitestgehendem Maße der Technik zum Eingang in die
Betriebe zu verhelfen.“13 Der Technisierungszwang erschien als Lösung des Pro-
blems der „Preisschere“, dem wachsenden Kaufkraftverlust durch sinkende Ein-
nahmen und steigende Ausgaben in den 1930er Jahren.14 Billigere Betriebsmittel
versprachen, je nach Größe und Art des Betriebes, eine mehr oder minder spür-
bare Ersparnis.15 In den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ hatte die Land-
maschinenindustrie des „Altreichs“, trotz Wegfalls der Zollschranken, aufgrund
des vereinbarten Gebietsschutzes für österreichische Firmen16 nur beschränkten
Zugang zum ostmärkischen Absatzmarkt. Nach dem Ausgleich des Preisgefälles
zu Jahresende 1938 setzte jedoch die Nachfrage – Meisel sprach für 1939 von
einem „wahre[n] Landmaschinenhunger“17 – nach dem verbilligten Angebot an
Landmaschinen voll ein. Demgegenüber wurden die Handelsdüngerpreise man-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937