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401„Bauernstolz“
oder Klientenmentalität ?
volks“ zu sein,68 war der Vorstellung eines Interessenausgleichs in der deutschen
„Volksgemeinschaft“ verpflichtet.69 Diese sozialharmonische Sichtweise verschlei-
erte die Konflikte zwischen den Interessen unterschiedlicher Gruppen der Gesell-
schaft ; zugleich verwies sie aber auch auf eine Strategie, durch die solche Interes-
senkonflikte zwar nicht ausgeglichen, jedoch eingedämmt wurden : das Erringen
symbolischer Herrschaft.70 Selbst in diktatorischen Regimes wie dem National-
sozialismus konnte die Führung ihren Führungsanspruch mit offener Gewaltan-
drohung und -anwendung allein nicht nachhaltig durchsetzen. Die NS-Diktatur
erforderte auch sanfte Gewalt, ein gewisses Maß an Anerkennung vonseiten des
„(Land-)Volkes“ – dies umso mehr, als die Machthaber in den Monaten nach dem
„Anschluss“ 1938 bestrebt waren, im zuvor christlichsozial dominierten Niederös-
terreich ihren Führungsanspruch gegen das noch ungebrochene Ansehen katho-
lisch-konservativer Eliten durchzusetzen.71
Bereits im Leitartikel der ersten Ausgabe des Wochenblatts im Mai 1938 kün-
digte Anton Reinthaller neben anderen Neuerungen auch die „Entschuldung der
österreichischen Landwirtschaft“ an.72 In dieser Ansage werden Schulden unter-
schiedlicher Art verrechnet : Zunächst entschuldet sie die materiell verschuldeten
Bauern symbolisch, indem sie dem „System“ der österreichischen Regierungen vor
1938 die Schuld an der bäuerlichen Misere anlastet. Danach befreit sie die bäu-
erlichen Schuldner durch die „Entschuldung“ – faktisch eine Umschuldung von
mehreren Einzelgläubigern zum Deutschen Reich als Alleingläubiger – aus der
materiellen Abhängigkeit. Sodann verlangt sie für die materielle Gabe der Ent-
schuldungs- und Aufbaumittel eine symbolische Gegengabe der Bauern. Schließ-
lich münzt die „Allgemeinheit“ als Gläubiger die symbolische Schuld der „Land-
wirtschaft“ – deren „Dank“ – in eine materielle – die „Leistungssteigerung in der
Erzeugungsschlacht“
– um. Kurz, die Bauern waren gefangen in einer Schuldenspi-
rale, in der der NS-Staat an die Stelle der ehemaligen Gläubiger trat. Der NS-Staat
akkumulierte aus der Verschuldung des vergangenen „Systems“ und der „Entschul-
dung“ der Bauern symbolisches Kapital, das wiederum zur Akkumulation materi-
ellen Kapitals im Rahmen der Produktionskampagne diente.
Der Diskurs des Wochenblatts über „Entschuldung“ und „Aufbau“ in den Fol-
gemonaten war durch eine Doppelstrategie gekennzeichnet : Einerseits wird die
Ansage Reinthallers vom Mai teils im nüchternen Juristenjargon, teils in hitzi-
ger Kampfrhetorik mehrfach wiederholt, bekräftigt und detailliert. Andererseits
kommen verschiedene Standpunkte des „Landvolkes“ als positive oder negative
Subjektpositionen zur Sprache.73 Bei allen Unterschieden war den Artikeln zwi-
schen Mai und Oktober gemein, dass sie auf eine Reihe horizontaler und verti-
kaler Auseinandersetzungen – sowohl innerhalb der ländlichen Gesellschaft als
auch zwischen „Landvolk“ und „Führung“ – verwiesen. Diese Debatten kreisten
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937