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402 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
teils um bäuerliche Wirtschaftsstrategien im Hinblick auf die Entschuldungs- und
Aufbauaktion : die Hoffnung auf die Befreiung von der Schuldenlast mithilfe des
Staates ; die Besorgnis, dass „schlechte Wirtschafter“ die staatliche Unterstützung
als Trittbrettfahrer missbrauchen könnten ; die Verlockung, den Versteigerungs-
schutz auf Kosten der Gläubiger auszunutzen. Teils kamen aber auch die Herr-
schaftsstrategien der Entscheidungsträger zum Ausdruck : Die Klage über negativ
gezeichnete Subjekte – den ‚naiven Ignoranten‘, ‚schlechten Wirtschafter‘, ‚skru-
pellosen Egoisten‘ – diente der Abschreckung potenzieller Antragsteller/-innen,
um die Zahl der tatsächlich eingebrachten Anträge in Grenzen zu halten. Offen-
bar waren die Entscheidungsträger im Agrarapparat anfangs von der Antragsflut
überrascht.74
Die monatelange Eindämmungsstrategie nahm jedoch kurz vor Ablauf der An-
tragsfrist eine unerwartete Wende. Im Dezember 1938, eine Woche vor Ablauf der
Antragsfrist, erschien ein ganzseitiger, illustrierter Artikel mit der Überschrift Un-
sinnige Gerüchte um die Entschuldung. Damit signalisierten die Führer des Reichs-
nährstandes einen strategischen Richtungswechsel : Ging es bisher darum, die
Antragstellung einzudämmen, wurde diese nun zur Pflicht „eines jeden Betriebsin-
habers, dessen Lage eine Bereinigung der Schulden fordert und dessen Wirtschaft
der Hilfe bedarf“.75 Einerseits wurden an eine Verletzung dieser Pflicht massive
Sanktionen geknüpft : „Landwirten“ drohe die Zwangsversteigerung ; „Bauern“, die
durch das REG vor Zwangsversteigerungen geschützt waren, drohe die „Zwangs-
kontrolle“ vonseiten des Reichsnährstandes. Andererseits signalisierte der Verfas-
ser Verständnis für das Zögern der Antragsteller/-innen :
„Der Antrag muß bis zum 31. Dezember 1938 gestellt werden. Viele glauben nun,
diesen nicht stellen zu müssen, weil darin etwas Erniedrigendes, ja vielleicht Ent-
ehrendes liege, zumal die Eröffnung des Verfahrens auch öffentlich bekanntgemacht
wird. Braucht sich ein Fabriksbesitzer, dessen Betrieb bei der Machtübernahme still
lag, zu schämen, wenn ihm durch Staatsaufträge und im Wege der Arbeitsbeschaf-
fungsmaßnahmen mit öffentlichen Mitteln geholfen wurde ? Braucht sich ein Bauer
oder Landwirt, den ein fremdes System bis an den Abgrund brachte, zu schämen,
wenn ihm geholfen wird ? Daß mancher sich scheut, den Antrag zu stellen, ist zwar
verständlich, da es immer der höchste Stolz des Bauern war, sich selbst zu helfen
und selbst alle Schicksalsschläge zu überwinden. Diese Selbsthilfe ist aber in so zahl-
reichen Fällen trotz aller Anstrengungen des einzelnen zur Zeit nicht möglich und
deswegen wurde das Schuldenregelungsgesetz geschaffen.“76
Diese Auseinandersetzung zwischen positiv und negativ gezeichneten Subjekt-
positionen verweist auf einen Widerspruch der Kolonialisierung bäuerlicher
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937