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403„Bauernstolz“
oder Klientenmentalität ?
Alltagswelten durch das NS-System. Der „Stolz des Bauern“77 – vor allem des
mittel- und großbäuerlichen Hofeigentümers – wurde einerseits durch die „Blut
und Boden“-Ideologie des Reichsnährstandes gestärkt ; andererseits kollidierte der
bäuerliche Autonomieanspruch im Alltag mit den auf Unterordnung abzielenden
Anreizen und Zumutungen des NS-Regimes.78 Im vorliegenden Fall richtete sich
der bäuerliche Ehrbegriff gegen die Regulierung der ländlichen, in multifunktio-
nale Beziehungsnetze eingebetteten Kreditmärkte durch den NS-Staat. Wenn sich
Hofbesitzer/-innen für oder gegen die Antragstellung entschieden, lagen ökono-
mische und moralische Momente, Kalkül und Gefühl, eng beisammen. Paterna-
listisch orientierte „Herrenbauern“, wie sie etwa für das Alpenvorland mit seinen
markanten Vierkanterhöfen charakteristisch waren, begriffen sich in der Logik der
alltäglichen Moralökonomie als Gebende, denen die Nehmenden – Dienstboten,
Kleinhäusler/-innen, Taglöhner/-innen
– Gegengaben schuldeten.79 Die Logik der
nationalsozialistischen Moralökonomie stufte sie nun herab zu nehmenden Kli-
enten, die sich mittels eines Entschuldungs- und Aufbauantrags gegenüber dem
Gebenden, dem paternalistischen NS-Staat und dessen „Führer“, in ein Schuldver-
hältnis begaben – und so ihre Ehre aufs Spiel setzten. Die drohende Umkehr des
hierarchischen Patron-Klient-Verhältnisses, der Wechsel von bäuerlicher Autono-
mie zu politisch-ökonomischer Unterordnung, stieß am sprichwörtlichen „Stolz
der Bauern“ an mentale Grenzen.
Sozusagen in letzter Minute suchte die Pressekampagne den „Bauernstolz“ in
Misskredit zu bringen, um der Staatshilfe für überschuldete Bauernbetriebe An-
erkennung zu verschaffen. Dieser Diskurs war wohl bereits vor Erscheinen des
Artikels über den Personalapparat des Reichsnährstandes, die Kreis- und Orts-
bauernführer, mündlich bis ins letzte Dorf getragen und zum Streitgegenstand
zwischen ‚alten‘, katholisch-konservativen und ‚neuen‘, nationalsozialistischen Eli-
ten geworden. Inwieweit sich diese massenmedialen und interpersonalen Diskurse
eigneten, zögernde Betriebsbesitzer/-innen zur Antragstellung zu bewegen, lassen
die milieuspezifischen Diffusionskurven erahnen : Im diffusionsfördernden Mi-
lieu, wo das mobilisierungsfähige Potenzial bereits weitgehend ausgeschöpft und
die bergbäuerliche Klientenmentalität80 ohnehin stark ausgeprägt war, blieb die
Wirkung gering ; doch in den übrigen Milieus – so auch im diffusionsneutralen
Milieu des Alpenvorlandes mit seinem akzentuierten Paternalismus – fand die für
das Diskurssubjekt des „Herrenbauern“ maßgeschneiderte Kampagne noch kurz
vor Jahresende 1938 erhebliche Resonanz. Erst der Mobilisierungseffekt der mas-
senmedialen Kampagne des Reichsnährstandes vermag in Kombination mit dem
Netzwerk- und Raumeffekt die Diffusion der Entscheidung zur Beteiligung an der
Entschuldungs- und Aufbauaktion hinreichend zu begründen.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937