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412 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
führen“105 sei. In der Regel benannten sie präzise die jeweiligen betrieblichen und fa-
miliären Bedingungen, aus denen Schulden entstanden. In Auersthal findet sich kein
Verweis auf die „Systemzeit“ ; stattdessen wurden Krankheiten, Todesfälle, Missern-
ten, Hofübernahmen, Grund-, Vieh- und Maschinenkäufe oder Baumaßnahmen als
Gründe der Verschuldung genannt.106 Ein regionaltypisches Verschuldungsrisiko
haftete dem Weinbau mit seinen schwankenden Erträgen an : „Die Verschuldung
der Wirtschaft wurde durch Viehverlust und schlechte Weinernten verursacht.“107
Auch in Frankenfels brachten die Gutachter die Verbindlichkeiten nur selten mit
dem „schlechten Geschäftsgang“ während der „Systemzeit“ in Verbindung ; meist
verwiesen sie, neben der ständigen Klage über die „schlechten Ertragsbedingungen“
im Gebirge, auf Krankheiten, Todesfälle, Brandschäden, Missernten, Grund-, Vieh-
und Maschinenkäufe, Baumaßnahmen oder die Nachlässigkeit des Vorbesitzers.108
In Heidenreichstein trat, neben den bereits genannten Gründen, die regionale Un-
gunstlage – das Waldviertel als landwirtschaftliches „Notstandsgebiet“ – hervor.109
In St. Leonhard am Forst stachen aus der allgemeinen Palette der Verschuldungs-
gründe die Ausgaben für das Gesinde besonders hervor : „Die Wirtschaft ist durch
hohe Lohnkosten belastet.“110 Auch die Lösung dieses Problems durch Mechanisie-
rung – „Anschaffung der Maschinen betriebswirtschaftlich notwendig, da in dieser
Gegend starker Arbeitermangel herrscht und der Betrieb mit Maschinen leicht be-
arbeitet werden kann“111 – drückte auf die Schuldenlast.
Alles in allem benennen die Stellungnahmen der amtlichen Gutachter zwei Ur-
sachenbündel, die über das engere betriebs- und volkswirtschaftliche Argumenta-
tionsmuster hinausreichten : unvorhersehbare Katastrophen und die Versorgungs-
ansprüche der Familie. Ersteres treffen wir etwa auf einem größeren Betrieb in
Kleinpertholz bei Heidenreichstein an : „Der Antragsteller wurde von Unglück im
Laufe seines Lebens heimgesucht : Blitzschlag, Tötung seiner 1. Frau und 3 Kühe,
Abbrennen der Wirtschaft und Unglück im Stall. Durch alle diese Unglücksfälle
wurde der Antragsteller in seinem Wirtschaftserfolg sehr beeinträchtigt und per-
sönlich beansprucht.“112 Das letztere Argument wurde für nahezu alle Untersu-
chungsgemeinden bemüht : „Sehr tüchtige, fleißige Bauern, die durch die große
Kinderzahl (13 lebende, 5 in fortgeschrittenem Alter gestorben) nicht zu einem
ordentlichen Aufschwung kommen können.“113 Eine Beschränkung auf die be-
triebliche Seite bäuerlichen Wirtschaftens würde demnach zu kurz greifen ; die
Seite des Haushalts, vor allem der (unter-)bäuerlichen Familie, war damit untrenn-
bar verwoben. Offenbar war das Schuldenmachen Teil der familienwirtschaftlichen
Strategie, eine große Zahl noch nicht oder nicht mehr arbeitsfähiger Angehöriger
zu versorgen.114 Manchmal verbanden sich beide Verschuldungsursachen : „Der
Mann der Besitzerin ist 1931 gestorben. Die Frau mußte die Wirtschaft allein
weiterführen und 10 Kinder erhalten und betreuen, wodurch die Verschuldung
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937