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413Staatshilfe
als „Auslese“
der Wirtschaft verursacht wurde.“115 Freilich wirkten Katastrophen und famili-
äre Versorgungsansprüche erst im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Ge-
samtentwicklung als Schulden : „Die Schulden stammen vom Grundankauf und
der Ernährung der zahlreichen Familie in der Zeit schlechten Verdienstes.“116 Die
Lektüre der amtlichen Gutachten der Entschuldungsbetriebe entkleidet das Argu-
ment, die bäuerliche Verschuldung beruhe einzig und allein auf der Misswirtschaft
der „Systemzeit“, seines ideologischen Mäntelchens.
Die Suche nach den Gründen der bäuerlichen Verschuldung, wie sie sich 1938
darstellte, führt zu einem Komplex ökonomischer und außerökonomischer Mo-
mente, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zu einer krisenhaften Entwicklung
verbanden. Die Verschuldungskrise, die Mitte der 1920er Jahre, nach der inflati-
onsbedingten Entschuldung der Betriebe, eingesetzt hatte, war weniger auf eine
Intensivierung der Betriebsführung, als vielmehr auf die Überwindung der kriegs-
bedingten Extensivierung, das heißt der Schädigungen des Betriebskapitals etwa
durch Beschlagnahmen, Raubbau oder den Aufschub von Reparaturen, sowie die
Überwindung von Notlagen zurückzuführen. Dazu kam in der Weltwirtschafts-
krise der 1930er Jahre – im Widerspruch zur bauernfreundlichen Rhetorik des
„agrarischen Kurses“ – der Rückgang der bäuerlichen Betriebs- und Haushalts-
einkommen durch die zunehmende Öffnung der Schere zwischen Betriebsmit-
tel- und Agrargüterpreisen. Unter den Bedingungen dieser strukturellen und kon-
junkturellen Doppelkrise sahen sich viele Betriebsinhaber/-innen außerstande, die
aufgenommenen Sach- und Personalkredite zu tilgen sowie Steuern und Abgaben
zu entrichten ; ihnen drohten Zwangsversteigerungen, die von Geldinstituten, Pri-
vatgläubigern und Behörden betrieben wurden.117 Nach Angaben der Landwirt-
schaftskammer stiegen die Zahlen der in Niederösterreich bewilligten Zwangs-
versteigerungen 1929 bis 1934 von 640 auf 1.813 ; im selben Zeitraum stiegen
die Zahlen der durchgeführten Exekutionen von 174 auf 597.118 Gegen die Ver-
steigerungswelle richteten sich eine Reihe von bäuerlichen Widersetzlichkeiten,
die ihren Schwerpunkt in den Gebirgsregionen hatte.119 Selbst dem NS-Regime
nahestehende Experten sahen die Verschuldung weniger politisch, als wirtschafts-
strukturell und -konjunkturell bedingt :
„Soweit aus vorliegenden Angaben etwas über die Verschuldungsgründe zu ersehen
war, sind die Ursachen der Verschuldung vorwiegend auf die Unrentabilität der Land-
wirtschaft, daneben aber auch in der Ausführung unvermeidlich gewordener Bauten
zu suchen. Allerdings war auch eine Besitzverschuldung infolge Gutsübertragung und
Erbabfindung bereits in steigendem Umfang wieder festzustellen. Die Schulden sind
im allgemeinen also nicht gemacht, um Betriebe zu intensivieren, sondern weil ir-
gendeine Notlage eingetreten war.“120
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937