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438 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
„Unter Gebirgsbauer versteht man meist jenen Bauer, der hoch oben in den Bergen, an
der Grenze menschlicher Siedlungsmöglichkeiten, um seinen Lebensunterhalt ringt.
Unendlich schwerer Arbeit steht ein geringer Ertrag gegenüber. Seine Wirtschaft
ist ein Grenzbetrieb im ökonomischen Sinne. Umstände, die der Bauer im Tal kaum
spürt, können ihn vor ungeheure Aufgaben stellen, können für ihn Sein oder Nicht-
sein bedeuten. Das Leben stellt an ihn höhere Anforderungen und schafft so eine
Auslese, die für das ganze Volk eine Quelle besten Blutes bildet. Dieser Bauer auf dem
letzten Hof zwischen unfruchtbarem Fels und menschlichem Siedlungsgebiet ist das
Urbild dessen, was wir unter Bergbauer verstehen und ist zugleich auch der Grenzfall.
Denn unter ihm beginnt noch lange nicht das Flachland. Zwar sind die Almen, der
Wald und die Wiesenhänge nicht mehr so schroff und dem Wetter ausgesetzt, doch
bieten sie ganz andere Produktionsvoraussetzungen, als etwa das Hügelland oder gar
das Flachland.“176
Der „Gebirgsbauer“ wird hier in doppelter Weise als grenzwertig konstruiert : Ei-
nerseits wirtschafte er an der ökologischen Vegetationsgrenze, andererseits an der
ökonomischen Grenze der Ertragsfähigkeit. Seine Leistung wird weniger volks-
wirtschaftlich, als vielmehr „volksbiologisch“, weniger an den Erträgen seines Be-
triebes, als an seiner Familie – als „Quelle besten Blutes“ – bemessen.
Der Autor unterscheidet jedoch zwischen dem derart skizzierten Ideal der „Ge-
birgsbauern“ und dessen realen Ausprägungen in den unterschiedlichen Land-
schaftszonen zwischen Hochgebirge sowie Hügel- und Flachland :
„Die Zahl der wirklichen Grenzbetriebe ist verhältnismäßig niedrig und ihr wirt-
schaftlicher Nutzen für die gesamte Landwirtschaft ist verschwindend gering. Der
Betrieb des Bauern im Bergland dagegen stellt einen großen Teil aller landwirtschaft-
lichen Betriebe in der Ostmark und seine Wirtschaftslage spielt eine entscheidende
Rolle für den Wirtschaftserfolg der Gesamtlandwirtschaft.“177
Erst der in weniger grenzwertiger Natur- und Wirtschaftslage angesiedelte „Berg-
bauer“ erhält neben dem „volksbiologischen“ auch volkswirtschaftlichen Nutzen
zugesprochen ; auf diese Gruppe, die drei Viertel der Betriebsfläche und die Hälfte
der Betriebe der Ostmark repräsentierte, konzentriert sich der folgende Problem-
aufriss. Dabei folgt er der Definition aus der Verordnung zur „Bergbauernhilfe“
der österreichischen Bundesregierung von 1934. Zwar weist der Autor auf die in-
nere Differenzierung hin : „Eine ‚typische‘ Bergbauernwirtschaft, auf die etwa die
im folgenden gegebenen Wirtschaftsverhältnisse genau zutreffen, gibt es nicht.“178
Dementsprechend müssten Seehöhe, Wasserhaushalt und Bodenbeschaffenheit,
Wärme-, Licht- und Niederschlagsverhältnisse, Verkehrslage, Absatzmöglichkei-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937