Seite - 442 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 442 -
Text der Seite - 442 -
442 Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“
über deren ausgabenseitiges Übergewicht, die weitere Öffnung der „Preisschere“
folgten. Das bergbäuerliche Kaufkraft-, Verschuldungs-, Entlohnungs- und Ar-
beitskraftproblem erzeugten über ihre Rückkoppelungseffekte eine Art Teufels-
kreis – das Bergbauern-Syndrom. Das Bergbauern-Syndrom wurde auf zwei eng
miteinander verwobenen, doch getrennt beobachtbaren Ebenen wirksam : In der
Gesellschaft formierte es sich als Zusammenhang von einander wechselseitig be-
einflussenden Preisgefällen, Verschuldungsraten, Ertrags- und Einkommensunter-
schieden und Migrationsbewegungen. Im Diskurs nahm es in Form dramatisie-
render – teils pathologisierender, teils militarisierender – Metaphern Gestalt an.
Was die Wirkmächtigkeit des Bergbauern-Syndroms ausmachte, war vor allem die
Wechselbeziehung dieser beiden Ebenen
– der Realitätseffekt des Gedachten, Ge-
sprochenen und Geschriebenen.185
Bereits in der vergleichsweise nüchternen Wissenschaftssprache der zuvor er-
läuterten Studie war die Rede vom Unvermögen der „Systemregierung“, die berg-
bäuerliche Wirtschaft „auf eine gesündere Basis zu stellen“,186 vom „Bergbauern“
als einem „Vorposten im Kampf um Ernährung und Leben seines Volkes“.187 Voll-
ends zur Entfaltung kam die pathologisierende und militarisierende Metaphorik
des Bergbauern-Syndroms in der populären Agrarpresse, etwa im Wochenblatt der
Landesbauernschaft Donauland auf regionaler Ebene und in der Nationalsozialisti-
schen Landpost, dem Blatt des Reichsamts für Agrarpolitik der NSDAP, auf über-
regionaler Ebene. Dabei wurden die harte Arbeit und das karge Leben auf den al-
pinen Steilhängen propagandistisch in Dienst genommen. Neben dem Text wurde
vermehrt die Fotografie – von den Blattmachern als authentisches Abbild der Re-
alität codiert und nur für kritische Leser/-innen als Inszenierung decodierbar
– als
Bedeutungsträger eingesetzt (Abbildung 5.16).
Einer der Protagonisten der öffentlichen Bergbauern-Debatte in der Ostmark
nach dem „Anschluss“ war Landwirtschaftsminister und Landesbauernführer
Anton Reinthaller. So erläuterte er im Februar 1940 unter der Schlagzeile Ein
kostbarer Schatz der Nation ausführlich seine Diagnose des Bergbauern-Syndroms
und die daraus folgende Therapie. Gleichsam als Krankheitserreger erscheinen „li-
beralkapitalistische Kreise“ – ein Synonym für ‚den Juden‘ –, die „im Bauern nur
den Landwirt und Ökonomen, d. h. einen Produzenten und nichts weiter sahen
und am Ende eines abgesteckten Weges an Stelle von Bauernhöfen rationalisierte,
auf Maschinen- und Lohnarbeit abgestellte Getreidelatifundien bzw. Forst-, Jagd-
und Großweidebetriebe wünschten“. Der liberalistisch-kapitalistische Weg, „un-
sere gesamte Veredelungswirtschaft, unser Bauerntum und damit unsere politische
Freiheit und die rassische Grundlage der Nation dieser Entwicklung zum Opfer
zu bringen“, sei durch die „nationalsozialistische Revolution“ gestoppt und ent-
sprechend den ernährungs- und rassenpolitischen Zielen umgeleitet worden. Die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937