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445„Aufrüstung“
in den Bergen
drei längere Artikel193 –, war nicht bloß Dienst an der gemeinsamen Sache.194 Sie
diente zweifellos auch seinem persönlichen Interesse, die Position als „Bauernfüh-
rer“ für das Gebiet des ehemaligen Österreichs zu beanspruchen und, nach Aus-
laufen des Wiener Landwirtschaftsministeriums 1940, als Unterstaatssekretär im
REM nachhaltig abzusichern. So gesehen war Reinthaller nicht nur publizistischer
Konstrukteur des Bergbauern-Syndroms, sondern auch dessen Nutznießer ; er ins-
trumentalisierte es nicht nur dazu, um als ‚Bergbauern-Patron‘ Lobbying für seine
Klientel zu betreiben, sondern auch im Interesse der eigenen Karriere.
Die Agenden der Berglandabteilung umfassten ein breites Spektrum an Akti-
vitäten, die von der infrastrukturellen Erschließung der Höfe
– etwa durch Güter-
wege, Seilbahnen und Stromanschlüsse
– über die technische Betriebsausstattung
–
etwa mit Saatgut, Landmaschinen und Gebäuden – bis zu wissenschaftlichen
Forschungsarbeiten reichten.195 Für das Vorzeigeprojekt, den „Gemeinschafts-
aufbau im Bergland“, erhoben mehrere Beteiligte nachträglich Anspruch auf die
Vaterschaft. Exel zufolge wurde die „Idee der ‚Aufbaugemeinschaften‘ in der Lan-
desbauernschaft Donauland geboren“.196 Nach Haushofer ging es ihm und seinen
Fachkollegen mit dieser Aktion darum, nun endlich „für die Bergbauern etwas tun
zu können“.197 Doch jenseits derartiger Einzelinitiativen folgte die Entscheidung
für den „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“ aus dem Gesamtzusammenhang des
nationalsozialistischen Agrarapparats. Um ein Gegengewicht zur schrittweisen
Entmachtung von innen, durch die Karriere seines Stellvertreters Herbert Backe
in der Vierjahresplanbehörde seit 1936, und außen, durch die Bestellung Heinrich
Himmlers zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums 1939,
zu setzen,198 kündigte Reichsernährungsminister Richard W. Darré im Dezem-
ber 1940 in einer Radiorede zur Kriegserzeugungsschlacht die „Aufrüstung des
Dorfes“ an.199 Dieser metaphorisch an die militärisch-industrielle Aufrüstung
anknüpfende, gigantomanische Plan einer ‚Totaltechnisierung‘ der deutschen
Landwirtschaft nach Kriegsende
– als Kosten wurden rund 60 Milliarden Reichs-
mark kolportiert – nährte die Vision einer nachholenden „Modernisierung [sic]
der Landwirtschaft“ auf bäuerlicher Grundlage.200 Der „Gemeinschaftsaufbau im
Bergland“ stand im engen Zusammenhang mit der „Aufrüstung des Dorfes“, wie
Haushofer ausführte : „Man kann es tatsächlich so ausdrücken, daß der Gemein-
schaftsaufbau für die – erst nach dem Kriege vorgesehene – Dorfaufrüstung nicht
nur planerische Vorarbeiten geleistet, sondern schon Lösungen hingestellt hat, die
nicht nur technisch, sondern auch verfahrensmäßig Ansatzpunkte für deren Wei-
terentwicklung nach dem Kriege darstellen.“201 Die „Dorfaufrüstung“ bezog sich
nicht nur auf das „Landvolk“ im Reichsgebiet, sondern auch auf die Besiedelung
der eroberten Ostgebiete.202 Aus der Perspektive der Agrarplanung bereiteten die
‚kleinen Schritte‘ des „Gemeinschaftsaufbaus im Bergland“ den Boden für den
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937