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451„Aufrüstung“
in den Bergen
mit gleichsam ethnographischer Akribie zu fassen suchten. Dabei wurde der
Planungsgegenstand vorweg in einen weniger relevanten und einen relevante-
ren Teil aufgespalten : Von den 222 Betrieben in der Gemeinde wurden die 37
unter- und kleinbäuerlichen mit weniger als fünf Hektar Betriebsfläche nicht
erfasst ; die Besitzer/-innen der verbleibenden 185 mittel- und großbäuerlichen
Höfe sollten hinsichtlich der Betriebs- und Haushaltsverhältnisse eingehend be-
sichtigt und deren Inhaber/-innen befragt werden. Der amtlichen Durchleuch-
tung verweigerten sich 15 Besitzer/-innen zur Gänze, 20 hinsichtlich der über
den Betrieb hinausgehenden Befragung zum Haushalt und seinen Angehörigen.
Nur fallweise, aber in dennoch bemerkenswertem Ausmaß suchten bäuerliche
Hofinhaber/-innen die Grenze zwischen Alltagssphäre sowie dem vom Reichs-
nährstand repräsentierten NS-System zu verteidigen. Die Motive der 15 Per-
sonen, die ihre Teilnahme am „Gemeinschaftsaufbau“ verweigerten, waren un-
terschiedlich gelagert : Drei waren „vermögende Fabrikanten“ ; einer war zum
Militär eingerückt ; drei waren „wegen hohen Alters abgeneigt“ ; sechs galten als
„ängstlich und misstrauisch“ und zwei – namentlich genannte – als „unwillig“.
Ungeachtet dieser Ausnahmen bewerteten die Mitarbeiter/-innen des Reichs-
nährstandes die beobachteten und befragten Betriebsinhaber/-innen in der Regel
als „sehr fleißig und arbeitsam, sehr religiös und durchaus gewillt, mit aller Kraft
am Aufbau mitzuarbeiten“.222
Der Fragenkatalog beschränkte sich nicht allein auf betriebswirtschaftliche
Merkmale, sondern erstreckte sich auf die Totalität des Alltagslebens, bis hin zu
intimsten Details wie Krankheiten, Behinderungen und Fortpflanzungsfähigkeit ;
eine Auswahl aus den ausgewerteten Antworten zeigt die Breite und Tiefe des
amtlichen Röntgenblickes auf :
„Die meisten Geburten weist eine Bäuerin auf mit Kindern 18. Es folgen 2 Frauen
mit je Kindern 12, wenige Frauen mit Kindern 8–11. Relativ zahlreich sind die Ehen
mit Kindern 6–7. Kinderlos (unfruchtbar) sind Ehen 14 = 9%. […]
Die Neigung, die Kinder in die Fachschule zu schicken, ist gering. Begründung :
Geldmangel und Unentbehrlichkeit der 14–18 Jährigen. Interesse für Beratung und
Kurse im Gebiet selbst ist groß. […]
Ehrenamtlich tätig sind : in Partei und Gliederung 40 Leute, im RNSt. 17 Leute,
in Vereinen, Genossenschaft usw. 25 Leute.
Als chronisch leidend bezeichnen sich Menschen 112 = 8,84 %, geistig abnormal
sind 10 = 0,79 %, körperliche Krüppel sind 69 = 5,45 %.
Von den in den erhobenen Betrieben arbeitenden 704 Menschen werden als aus-
gesprochen untüchtig bezeichnet 29 = 4,12 %, als minder tüchtig 13 = 16,05 %, als
tüchtig 562 = 79,83 %. […]
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937