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469„Aufrüstung“
in den Bergen
als Aufbauleiter zählte, dann unterschlug er dabei einen wesentlichen Unterschied :
Für die Höfe in der Nähe des Lagers beim Bahnhof Ybbsitz sowie der Nebenlager
in den Katastralgemeinden handelte es sich um eine Regelung, die den Zugriff auf
billige, gefügige Arbeitskräfte ermöglichte. Für die eigentlichen „Gebirgsbauern“
war der damit verbundene Überwachungsaufwand beim Hin- und Rücktransport
kaum tragbar. Für Erstere standen die Transaktionskosten des Kriegsgefangenen-
einsatzes in einem günstigen Verhältnis zu den Lohnkosten – was den Wunsch
nach einem Austausch der polnischen Zivilarbeitskräfte weckte ; für Letztere stan-
den Transaktions- und Lohnkosten in einem ungünstigen Verhältnis. Je nach Be-
triebsstandort erwies sich der Ybbsitzer Kompromiss als effiziente oder ineffiziente
Institution ländlicher Arbeitskraftrekrutierung.
Die Massendeportation „ungarischer Juden“ nach Niederdonau eröffnete 1944
den Protagonisten des Gemeinschaftsaufbaus in Ybbsitz ein Gelegenheitsfenster
zur Fortsetzung des vorübergehend eingestellten Güterwegebaus im Aufbaugebiet.
Die Agrarbezirksbehörde in Wien, Gruppe Güterwege, die örtliche Aufbauge-
nossenschaft und die Gauwerke Niederdonau, die das ehemalige Kriegsgefange-
nenlager in Gstadt mittlerweile als Materialdepot in Beschlag genommen hatten,
einigten sich im Juni 1944 auf die bauliche Abtrennung einiger Räume zur Un-
terbringung von etwa 60 „ungarischen Juden“ als Arbeitskräfte für den Güter-
wegebau.253 Ob die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter/-innen tatsächlich, wie
beabsichtigt, vom Arbeitsamt zugewiesen und vor Ort eingesetzt wurden, muss
bezweifelt werden ; denn noch im November 1944 spekulierte das Amt des Reichs-
statthalters in Niederdonau über die Verwendung der Räumlichkeiten „für den Fall
des Ausbleibens der Judenarbeiter“.254
Neben den äußeren Beschränkungen der Ressourcenengpässe und damit in
Verbindung stieß der „Gemeinschaftsaufbau“ in Ybbsitz aber auch auf innere
Grenzen. Brauner konnte selbst in seinem Erfolgsbericht an die Berglandabtei-
lung nicht verhehlen, dass unter den knapp über 200 Genossenschaftsmitgliedern
Missstimmung aufgekommen war. Es sei künftighin notwendig, „rechtzeitig die
Mitgliedschaft etlicher, offensichtlich unfähiger Mitglieder zu überprüfen und
die unwürdigen und unfähigen Bauern vom Gemeinschaftsaufbau auszuschlies-
sen und damit den Weg für einen Besitzerwechsel oder Hofübergabe frei zu ma-
chen“.255 Über die Gründe dieses Missmuts können wir begründete Spekulationen
anstellen : Erstens erwiesen sich einige Neuerungen, wie der Kriegsgefangenen-
einsatz, für manche Betriebsbesitzer/-innen als wirtschaftlich widersprüchlich :
die Handelsdüngerlieferungen, die mangels einer überdachten Lagerstätte am
Bahnhof bei häufig widriger Witterung vom Waggon aus auf die Transportfahr-
zeuge verladen werden mussten ; der genossenschaftliche Holzgastraktor, für den
noch keine ausgebildeten Fahrer verfügbar waren ; die „Gesunddüngung“ mittels
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937