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549Die
imaginierte „Volksgemeinschaft“
Eskalation bei.229 Zudem war es nicht irgendwer, der die Legitimität des neuen
Regimes infrage stellte ; der „meckernde“ Bauer war, wie uns der Artikel mitteilt,
einer, „der auch damals [während der „Systemzeit“] mitzureden hatte“. Falls tat-
sächlich ein Wortführer des alten „Systems“ das Schweigen gebrochen hatte, sah
sich ein Sprecher der NS-Dorfelite veranlasst, der Wortattacke zu begegnen. Es
ist auch ein anderer Fall denkbar : Die NS-Dorfelite suchte den nicht mehr zu ig-
norierenden Unmut über die landwirtschaftliche „Preisschere“ mittels der fiktiven
Geschichte des „Systemlings“ zur christlichsozialen Gegnerschaft um- und damit
abzuwerten. In beiden Fällen folgte die Rede derselben Strategie : die Legitimität
der neuen Elite durch die Entlegitimierung der alten zu stärken. Die offensichtlich
wirtschaftlich motivierte Äußerung des Bauern : „I spür nix, daß besser ist“ wird
zur moralisch verwerflichen „Böswilligkeit“ des „Systemlings“ umgedeutet. Ver-
stärkend hinzu kommt die Inanspruchnahme „wahren Christentums“ durch den
Nationalsozialismus in Abgrenzung zur behaupteten Scheinheiligkeit der christ-
lichsozialen „Systemlinge“.
Der Kampfartikel vom Sommer 1939, als Knoten eines Bedeutungsgewebes
betrachtet, spannte gewissermaßen eine Brücke zwischen Spezial- und Alltagsdis-
kursen zu bergbäuerlichen Arbeits- und Lebensverhältnissen 1938/39 : einerseits
der agrarökonomischen und agrarpolitischen Debatte zum Bergbauern-Syndrom,
die Diagnosen und Therapien zur Gesundung des „Gebirgsbauern“ als „Blutsquell
und Ernährer“ erörterte ; andererseits der wachsenden Unzufriedenheit der Ange-
hörigen bergbäuerlicher Familien über die sich öffnende Schere zwischen Ausga-
ben und Einnahmen, vor allem als Folge der im Zuge der „Landflucht“ gestiegenen
Gesindelöhne. Der Artikel suchte die Kluft zwischen dem Ansprechen und Weg-
reden des bergbäuerlichen Einkommensproblems im grellen Kontrast zwischen
den „Systemjahren“ und der „neuen Zeit“ in den Schatten zu stellen. Zwar stellte
er das bergbäuerliche Einkommensproblem nicht in Abrede ; doch umging er es,
indem er die Aufmerksamkeit der Leser/-innen auf die Besserung der Lage seit
dem „Anschluss“ umzulenken suchte :
„I spür nix, daß besser worden is, aber für ein Ei weiß er 10 Pfennig zu verlangen. Die
Raunzer, auch Meckerer genannt, werden nicht alle. Sie raunzen entweder aus Ge-
wohnheit, aus Dummheit oder besser gesagt : aus Böswilligkeit. Letzten Endes mehr
aus Böswilligkeit, denn, wenn heute so mancher Gebirgsbauer es nicht einsieht, daß
es auch für ihn besser geworden ist, ist es nur Böswilligkeit und er macht es mit
Absicht. So ein Systemling will es heute noch nicht einsehen, daß es auch für ihn im
nationalsozialistischen Regime besser geworden ist, als es ihm unter der glorreichen
Schuschnigg-Regierung gegangen ist, obwohl er einem Wiener zu sagen weiß, unter
10 Pfennig gebe ich kein Oa (Ei) her. Er soll es beweisen, daß es so ist, wie er behaup-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937