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558 Das „Landvolk“ und seine Meister
Inwiefern entsprach die diskursive Positionierung Leitners als Grenzgänger
zwischen bäuerlicher und proletarischer Existenz seiner sozialen Position ? Um
diese Frage zu beantworten, folgen wir zunächst der Betriebsbesichtigung durch
Mitarbeiter der Landstelle Wien im September 1938. Damals gehörten zum Hof
knapp 30 Hektar Grundbesitz, von denen zwei Drittel mit 30- bis 70-jährigem
Buchen-, Fichten- und Erlenbestand bewaldet waren ; der Rest teilte sich in sechs
Hektar Acker und vier Hektar Wiese auf. Der sandige, mit Steinen durchsetzte
Lehmboden trug etwa einen Hektar Wintergetreide, hauptsächlich Roggen, und
zwei Hektar Sommergetreide, in erster Linie Hafer. Eineinhalb Hektar wurden
für Kartoffel-, Futterrüben- und Kleeanbau verwendet, ein halber Hektar diente
als Wechselwiese, der Rest lag brach. Zum Besichtigungszeitpunkt standen vier
Kühe, eine Kalbin, zwei Jungochsen, zwei Kälber, eine Zuchtsau, drei Läufer und
ein Ferkel im Stall.246 Daneben tummelten sich acht Schafe, eine Ziege und 15
Hühner am Hof. Das in 850 Metern Seehöhe liegende Wohnhaus, aus Stein und
Holz gebaut und mit Stroh gedeckt, befand sich in gutem Zustand. Rinder- und
Schweinestall hingegen machten auf den Gutachter einen baufälligen Eindruck.
Im Aufbauplan wurde daher neben dem Ankauf eines Ochsen und der Errich-
tung von Düngersammelanlage und Jauchegrube der Neubau der Ställe vorgese-
hen. Neben dem 1893 geborenen Leopold Leitner wurde der Hof von seiner 1891
geborenen Ehefrau Katharina und einer Tochter, Jahrgang 1921, bewirtschaftet ;
zudem lebte die 1928 geborene Ziehtochter im Haus. Der in den 1930er Jahren
zur Familie gehörende Ziehsohn scheint im Besichtigungsprotokoll nicht auf. Vor
allem während der arbeitsintensiven Zeit der Ernte kamen zusätzliche Arbeits-
kräfte im Ausmaß von etwa 45 Arbeitstagen zu Hilfe. Der Beamte errechnete in
seinem Bericht eine jährliche „Leistungsfähigkeit“ von 120 Reichsmark. So viel
blieb übrig, wenn man die Ausgaben von den Einnahmen, die zu fast zwei Drit-
teln aus dem Rinderverkauf stammten, abzog. Auch wenn diese Rechnung die
Aufbaumaßnahmen vorwegnahm und eine „ordnungsgemäße Wirtschaftsweise“
unterstellte, konnte sie nicht völlig aus der Luft gegriffen sein. Schließlich bemaß
sie die jährliche Höchstlast der im Entschuldungs- und Aufbauplan vorgesehenen
Tilgungs- und Zinszahlungen, die in diesem Fall 105 Reichsmark betrugen.247
Setzen wir das Hab und Gut der Leitner-Familie in Beziehung zum Besitz der
übrigen Höfe in der Gemeinde. In einer Bergregion, in der die Höhenlagen der
Gründe zwischen 500 und knapp 1.000 Metern schwankten, stellt die Betriebs-
fläche ein wenig aussagekräftiges Maß der Betriebsgröße dar ; denn hochgelegene
Gründe werfen aufgrund der kürzeren und kühleren Vegetationszeit weitaus weni-
ger Ertrag ab als Talgründe. Der 1940 an Stelle des bisherigen Katastralreinertrags
festgesetzte Einheitswert als Grundlage zur Bemessung der Grundsteuer sollte
diese standortbedingten Ertragsschwankungen berücksichtigen.248 Die dabei auf-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937