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572 Ordnung und Chaos des Marktes
Oberdonau und Wien umfasste, stand ein „alter Kämpfer“ der österreichischen
Nationalsozialisten : Landesbauernführer Anton Reinthaller, der 1938 auch zum
Landwirtschaftsminister im „Lande Österreich“ sowie, nach Inkrafttreten des Ost-
markgesetzes 1940, zum Unterstaatssekretär im Reichsministerium für Ernährung
und Landwirtschaft bestellt wurde (Abbildung 7.2).10 Vertikal war die Landesbau-
ernschaft Donauland gegliedert in Kreis- und Ortsbauernschaften, an deren Spitze
die Kreis- und Ortsbauernführer standen. Die horizontale Gliederung sah, neben
den Verwaltungshauptabteilungen, die jeweils dreigeteilten Landes- und Kreis-
hauptabteilungen vor : Die Hauptabteilung I („Der Mensch“) war für die rechtli-
che, fachliche und ideologische Betreuung des „Landvolkes“ zuständig ; die Haupt-
abteilung II („Der Hof“) kümmerte sich um die betriebswirtschaftlichen Aufgaben
im Interesse der „Erzeugungsschlacht“ ; die Hauptabteilung III („Der Markt“) re-
gelte Ablieferung, Verteilung und Verarbeitung der Erzeugnisse. Auf der Ebene
der Landesbauernschaften organisierten die nach verschiedenen Produktsparten
gegliederten Wirtschaftsverbände die Herstellung, Verarbeitung, Ablieferung, Ver-
teilung und Preisfestsetzung ;11 noch 1938 wurden in den drei Landesbauernschaf-
ten der Ostmark Verbände der Getreide-, Vieh-, Milch-, Kartoffel-, Eier-, Brau-,
Zucker-, Gartenbau-, Weinbau- und Fischereiwirtschaft gebildet. Durch die Ma-
nipulation von Angebot und Nachfrage sowie über das Festpreissystem verfügte
der Reichsnährstand über die Instrumente, um den Fluss der Agrarprodukte vom
Erzeuger bis zum Verbraucher zu regulieren. Die Preise bestimmte nicht mehr
vorrangig die „unsichtbare Hand“ des Marktmechanismus, sondern die ‚sichtbare
Hand‘ des Reichsnährstandes.12 Zum Aufgabenbereich der Markthauptabteilung
zählte auch die „Bereinigung“ des Verarbeitungs- und Handelsbereichs durch
„Arisierung“ ; bis Jahresende 1940 wurden in Wien, Nieder- und Oberdonau 515
jüdische Betriebe stillgelegt, 393 „arisiert“.13
Zur Zeit des „Anschlusses“ Österreichs war die Funktion des Reichsnährstan-
des im NS-Staat im Umbruch begriffen. Der Reichsnährstand wurde im Deut-
schen Reich 1933 als Selbstverwaltungskörperschaft öffentlichen Rechts mit
Zwangsmitgliedschaft aller in der Land- und Forstwirtschaft Berufstätigen – ein-
schließlich der Landarbeiter/-innen –, der Selbstständigen im Landhandel sowie
im Be- und Verarbeitungsbereich, der landwirtschaftlichen Genossenschaften,
der marktregelnden Zusammenschlüsse und angegliederter Organisationen ein-
gerichtet. Obwohl eine „Interessenvertretung“ im pluralistisch-demokratischen
Sinn mit dem diktatorischen „Führerprinzip“ nicht vereinbar war, oblagen dem
Reichsnährstand, neben dem vom Staat übertragenen Wirkungsbereich, im eige-
nen Wirkungskreis vergleichbare Agenden, wie etwa die „Förderung des deutschen
Bauerntums und der Landwirtschaft“, die „Sicherung der Berufsordnung“, ein-
schließlich dem „Ausgleich der – natürlich vorhandenen – Gegensätze“, und die
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937