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602 Ordnung und Chaos des Marktes
das widersprüchliche System der Nahrungsmittelbewirtschaftung zurück : Das
Urteil war geeignet, die materiell bedrängte „Selbstversorgergemeinschaft“ sym-
bolisch zu befestigen. Dies rechtfertigte einen erleichterten Strafvollzug mittels
Haftunterbrechungen, -aufschüben und -aussetzungen, der in Form der Arbeits-
kraft der Verurteilten der materiellen Basis der bäuerlichen Familienwirtschaft
wiederum zugutekam.
In den Verfahren gegen bäuerliche Schwarzschlächter standen häufig zwei Ange-
klagte, der Betriebsinhaber und seine Ehefrau, vor Gericht. Darin äußerte sich die
vorherrschende Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in der bäuerlichen Fa-
milienwirtschaft, die dem Mann das Schlachten und der Frau die Verarbeitung des
Fleisches zuordnete. Gemeinsam zu wirtschaften hieß vielfach auch, gemeinsam
„schwarz“ zu schlachten. Die Produktions- und Reproduktionsgemeinschaft des
bäuerlichen „Arbeitspaares“102 beruhte nicht nur auf der Hofausstattung, sondern
auch auf Vertrauen. Daher waren die Ehefrauen der bäuerlichen „Schwarzschläch-
ter“ als Eingeweihte, Beihelferinnen oder Mittäterinnen vielfach mitangeklagt.
Doch die überhand nehmenden Einberufungen bäuerlicher Betriebsbesitzer unter-
brachen die arbeitsteiligen Paarbeziehungen. An ihre Stelle traten behelfsmäßige
Beziehungen zwischen bäuerlichen Betriebsbesitzerinnen sowie in- und auslän-
dischen Arbeitskräften, so etwa im Fall einer 30-jährigen Bäuerin aus Röschitz,
Kreis Horn, der nach Einrückung ihres Ehemannes ein bis zwei Kriegsgefangene
und eine Ukrainerin zur Bewirtschaftung des 19 Hektar großen Anwesens zur Ver-
fügung standen. Um die im Weingarten benötigten Taglöhner/-innen sowie die
übrigen Arbeitskräfte zu verköstigen, schlachtete die Besitzerin 1942 mit Unter-
stützung eines belgischen Kriegsgefangenen ohne Genehmigung ein Schwein. Über
die folgenden Ereignisse gingen die Aussagen auseinander : Die Bäuerin verteidigte
sich vor Gericht damit, dass der Mann mittels Drohung mit einer Anzeige wegen
„Schwarzschlachtung“ von ihr mehrfach Geschlechtsverkehr erpresste. Doch das
Gericht erachtete die Erpressung als Grund des „verbotenen Umgangs“ der Ange-
klagten mit dem Kriegsgefangenen als zweifelhaft. Jedenfalls dauerte die sexuelle
Beziehung etwa ein Jahr an. Zudem schlachtete die Angeklagte 1943 mit demsel-
ben Mann ohne Genehmigung ein weiteres Schwein. Erst als der Kriegsgefangene
immer aufsässiger wurde, die Bäuerin immer häufiger beschimpfte und ihr schließ-
lich eine Ohrfeige verpasste, wurde er auf ihr Ansuchen hin vom Hof abgezogen.103
Es handelte sich gewiss um einen außergewöhnlichen Fall
– was nicht zuletzt in
der harten Bestrafung der Verurteilten mit zwei Jahren Zuchthaus zum Ausdruck
kam. Doch an ihm wird fassbar, wie die Normalität der arbeitsteiligen Paarbezie-
hung auch unter prekären Umständen – willentlich oder erzwungen – hergestellt
wurde. Im Rahmen der bäuerlichen Familienwirtschaft schüttelte der Landarbeiter
seine Position als diskriminierter Kriegsgefangener mehr und mehr ab und eignete
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937