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604 Ordnung und Chaos des Marktes
rungsverfahren angestrengt. Der Versteigerungstermin stand kurz bevor, als Kobi-
lic gemeinsam mit seinem Sohn im März 1942 ohne Genehmigung ein Schwein
schlachtete. Um kein Aufsehen zu erregen, wurde die Schlachtung an einem Sonn-
tag, als sich die Nachbarn in der Kirche befanden, entgegen der Gewohnheit, im
Freien zu schlachten, im Stall vorgenommen. Über einen bekannten Landwirt aus
derselben Gemeinde gelangte Kobilic an die Adresse eines in Wien wohnenden
Handelsunternehmers, der als Abnehmer von „Schleichhandelsware“ bekannt
war. Der Bekannte hatte den „Schleichhändler“ während seiner Haft, die er we-
gen „Schwarzschlachtens“ abzusitzen hatte, kennengelernt. Einige Tage nach der
Schlachtung reiste Kobilic mit seinem Sohn mit 19 Kilogramm Frischfleisch im
Gepäck nach Wien, um dem Abnehmer die Ware zum Kilopreis von 12 Reichs-
mark – gegenüber dem amtlichen Preis von 1,42 bis 2,16 Reichsmark – zu ver-
kaufen. Wenige Tage später begaben sich die beiden wiederum auf die Reise nach
Wien zu ihrem Abnehmer, diesmal mit 35 Kilogramm Fleisch, verpackt in zwei
Koffern. Sie wurden jedoch am Wiener Nordbahnhof im Zuge einer Polizeikont-
rolle entdeckt und in Haft genommen.
Die Verteidigungsstrategie, der der Angeklagte, wohl auch auf Rat seines Straf-
verteidigers, während des Verfahrens folgte, erwies sich als erfolgreich : Nicht nur
das Geständnis, sondern auch die Rechtfertigung, „daß er ausschließlich zur Ver-
besserung seiner schlechten Wirtschaftslage und zur Erreichung der Möglichkeit
der Abwendung der drohenden Zwangsversteigerung sich der Straftaten schuldig
machte“, galten vor Gericht als strafmildernd ; auf diese Weise konnte die Zuschrei-
bung des strafverschärfenden Attributs eines „Kriegsschiebers“ abgewendet wer-
den. Vor diesem Hintergrund griffen die Richter, trotz Vorliegen eines schweren
Kriegswirtschaftsverbrechens, zum Mindestmaß der dafür vorgesehenen Zucht-
hausstrafe.107 Weniger erfolgreich war jedoch das Gesuch um Strafaufschub, das
der Rechtsanwalt samt Befürwortungen durch Bürgermeister, Orts- und Kreis-
bauernführer einbrachte : Zwar wurden weithin geteilte Denkfiguren bemüht : die
Arbeitsüberlastung der 27-jährigen Tochter, die den Betrieb allein führen musste ;
der bevorstehende Verlust der Wirtschaft für die Familie durch das Zwangsver-
steigerungsverfahren ; die dadurch gefährdete Versorgung der drei minderjährigen
Kinder ; der Schaden für die Ernährungswirtschaft durch den drohenden Ernteaus-
fall.108 Doch das Ansuchen fand kein Gehör.109 Vielleicht spielte dabei eine Rolle,
dass der Verurteilte mit deutscher Staatsbürgerschaft als „tschechischer Volkszu-
gehöriger“ galt. Kurze Zeit danach verstarb Kobilic in der Haft ; außer einer hand-
schriftlichen Notiz des Todesdatums findet sich im Akt kein Hinweis dazu.110
Wie dieser Fall zeigt, war die Gruppe der bäuerlichen Schleichhändler, die vielfach
auch wegen „Schwarzschlachtungen“ verurteilt wurden, von denselben Ressourcen
wie die Gruppe der bäuerlichen Schwarzschlächter abhängig : vom Vertrauen seitens
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937