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706 Eine grünbraune Revolution ?
konfliktorientierte Modell der landwirtschaftlichen Tretmühle rückt die Konkurrenz
zwischen bäuerlichen Übernehmern technischer Neuerungen in den Mittelpunkt.
Der für Industriegesellschaften charakteristische Agrarpreisdruck wegen wach-
senden Nahrungsmittelangebots und gedämpfter Nachfrage kann vom Einzelbe-
trieb – mangels Einfluss auf die Preisgestaltung – nur mittels produktivitätsstei-
gender Technologien aufgefangen werden. Die Extraprofite technischer „Vorreiter“
(early-bird farmers) veranlassen die breite Masse (average farmers), die Neuerun-
gen zu übernehmen. Die dadurch erweiterte Kluft zwischen Angebot und Nach-
frage auf den Produktmärkten zwingt technische „Nachzügler“ (laggard farmers)
zum Nachrüsten oder Aufgeben ihre Betriebe, zum Wachsen oder Weichen. Wie
Hamster im Laufrad, die trotz aller Mühe nicht von der Stelle kommen, versuchen
die Betriebsbesitzer/-innen in der Tretmühle vergeblich, ihre Einkommen durch
technische Neuerungen zu steigern.43
Das staats- und systemorientierte Modell der Integration durch Unterordnung
sieht die entscheidende Triebkraft im industrialisierten Nationalstaat, der mittels
konsensstiftender und dissensbrechender Machtressourcen die revolutionäre Pro-
duktivitätssteigerung der Landwirtschaft im Dienst der Ernährungssicherheit der
Industriebevölkerung forciert. Im Zuge technischen und institutionellen Wandels
wird die Agrargesellschaft in ihrer Mehrfachrolle als Nahrungsmittelproduzentin,
Betriebsmittelkonsumentin und Arbeitskraftreservoir vergesellschaftet,44 das heißt
in die Industriegesellschaft integriert und zugleich deren Logik untergeordnet.45
Gleichzeitig mit dem Übergang vom solar- zum fossilenergetischen Agrarsystem
erfolgt der Übergang von einem agrarisch-industriellen Wissensregime, das die
Eigenarten tierischer und pflanzlicher Ressourcen anerkennt, zu einem industriell-
agrarischen Wissensregime, das keinen Unterschied zwischen lebenden und ande-
ren Ressourcen kennt.46 Das staats- und konfliktorientierte Modell des agrarischen
Wohlfahrtsstaates fokussiert auf das Ringen zwischen dem Konkurrenzdruck des
Weltagrarmarkts und den Schutzmaßnahmen der europäischen Nationalstaaten,
die in drei Wellen
– den 1880er, 1930er und 1950er Jahren
– markt- und preispoli-
tische Regelwerke zur Stützung bäuerlicher Einkommen setzen. Darin äußert sich
teils der Einfluss mächtiger Agrarlobbies auf den Staatsapparat,47 teils die von den
Entscheidungsträgern geteilte Grundüberzeugung des „landwirtschaftlichen Ex-
zeptionalismus“, demzufolge die Andersartigkeit des Agrarsektors auch andersar-
tige Eingriffe
– etwa Agrar- als Sozialpolitik
– erfordere.48 Trotz unterschiedlicher
Akzente schließen sich diese Ansätze keineswegs völlig aus ; vielmehr ergänzen sie
einander im Bestreben, den produktivistischen Übergang der Agrargesellschaft aus
der Wechselwirkung technischer und institutioneller Momente zu erklären. Jedoch
bedürfen diese Makroperspektiven auf Agrarrevolutionen der Ergänzung durch
Mikroperspektiven, um die Denk- und Handlungsweisen der ‚Revolutionäre‘ auch
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937