Seite - 710 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 710 -
Text der Seite - 710 -
710 Eine grünbraune Revolution ?
und andere Formen des Staatsversagens ; doch er vermochte dem Agrarsektor die
angestrebte Richtung zu weisen : Die Pflanzenproduktion, die pro Flächeneinheit
mehr Nährwert abwarf, sollte auf Kosten der Tierproduktion wachsen – außer der
Milcherzeugung, die zur städtischen Versorgung Priorität gegenüber der Viehmast
genoss. Zu diesem Zweck traten neben den Preismechanismus jährliche, durch
ökonomische Anreize und außerökonomische Zwänge verstärkte Anbauoffensiven
(ploughing-up campaigns), um die Farmer zur Umwandlung von Grün- in Acker-
land zu veranlassen. Ein eigenes Förderungspaket bezog die Berglandwirtschaft
mit ihren Standortnachteilen in die staatliche Produktionskampagne ein.55
Neben Maßnahmen zur Intensivierung der Landnutzung suchte der briti-
sche Staat auch den Einsatz der knappen Produktionsfaktoren Arbeit und Ka-
pital zu steuern. Um die weitere Abwanderung ländlicher Arbeitskräfte einzu-
dämmen, wurden die Landarbeiterlöhne – jedoch unter dem in Industrie- und
Dienstleistungsbereich üblichen Maß – erhöht und Berufswechsel in außeragra-
rische Wirtschaftszweige erschwert. Zudem wurden zusätzliche Landarbeitskräfte
auf freiwilliger Basis – Women’s Land Army, Voluntary Land Club Movement,
Schulklassen
–, aber auch mittels des Einsatzes von Kriegsgefangenen der Achsen-
mächte mobilisiert.56 Im Rahmen des Lend-Lease-Abkommens bezog Großbri-
tannien Massenlieferungen an Traktoren, Mähdreschern und anderen arbeitsspa-
renden Landmaschinen aus den USA.57 Kurz, „in terms of provision of labour and
machinery, agriculture received preferential treatment for the allocation of scarce
resources at a crucial time“58.
Im Vergleich zu Großbritannien hing die Nahrungsmittelversorgung des
Deutschen Reiches – und damit auch der Ostmark – in geringerem Maß vom
Weltmarkt ab. Zudem strebte der NS-Staat, als Alternative zur Globalisierung
unter britischer Hegemonie, eine kontinentaleuropäische „Großraumwirtschaft“
unter Einbezug der Agrarüberschussländer Ost- und Südeuropas an.59 Das NS-
Regime hatte bereits Jahre vor Kriegsbeginn – zunächst aus agrarideologischem
Protektionismus (z. B. REG 1933), dann zunehmend zwecks kriegswirtschaftlicher
Mobilisierung (z. B. Vierjahresplan 1936) – den Agrarsektor staatlicher Lenkung
unterzogen.60 Anders als Großbritannien setzte das Deutsche Reich weniger auf
den subventionierten Preismechanismus, als auf das staatliche Machtmittel der
Zwangsbewirtschaftung. Das zentrale Steuerungsinstrument des Reichsministe-
riums für Landwirtschaft und Ernährung bildete der damit in Personalunion ge-
führte Reichsnährstand, die offizielle Zwangsvereinigung der Erzeuger, Verarbeiter
und Verteiler von Nahrungsmitteln mit weitreichenden Lenkungskompetenzen.
Um Hungerrevolten wie im vergangenen Weltkrieg zu vermeiden, räumte das
Regime angesichts des geplanten Krieges der Stabilität der Konsumentenpreise
Vorrang vor der Anhebung der Produzentenpreise ein. Der Reichsnährstand rief
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937