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723Großbritannien
und die Ostmark im Krieg
Die Teilproduktivitäten der Produktionsfaktoren bemessen die Gesamtleis-
tung eines Agrarsystems nur ungenügend, weil sie dessen „Produktivitätseffekt“
verschleiern. Eine Lösung dieses Problems eröffnet die – durchaus problembe-
haftete – Berechnung der Gesamtfaktorproduktivität, die alle nicht durch die
mengenmäßige Veränderung von Land-, Arbeits- und Kapitaleinsatz erfass-
ten Wachstumsfaktoren bemisst und häufig als „Fortschrittsfaktor“ interpretiert
wird.81 Während für den britischen Fall eine Berechnung der agrarischen Ge-
samtfaktorproduktivität bereits vorliegt, wird diese für den österreichischen Fall
hier erstmals durchgeführt.82 Zunächst benötigen wir die Änderungsraten des
Gesamtoutputs sowie der drei Inputs 1939 bis 1944. Der Abnahme des Produk-
tionsvolumens um 22 Prozent und der Nutzfläche um knapp ein Prozent liegen
die Erhebungen von 1944, dem Beschäftigtenrückgang um 18 Prozent eine von
Regionaldaten abgeleitete Schätzung auf Basis der Erhebungen von 1939 und
1942 zugrunde. Die Zuwachsrate des Kapitaleinsatzes von 55 Prozent lässt sich
näherungsweise aus dem Mittelwert der Zuwächse der Motorenleistung 1946 (80
Prozent) und des wertgewogenen Mineraldüngereinsatzes im Wirtschaftsjahr
1943/44 (30 Prozent) bestimmen. Weiters benötigen wir die Kostenanteile der
drei Produktionsfaktoren (Boden-, Lohn- und Kapitalquote), die sich aus dem
durchschnittlichen Personal- und Sachaufwand der Buchführungsbetriebe in der
Landesbauernschaft Donauland 1939/40 ermitteln lassen ; dabei werden wegen
einiger Unwägbarkeiten drei Varianten unterschieden.83 Trotz unterschiedlicher
Änderungen der Teilfaktorproduktivitäten in Großbritannien und Österreich, vor
allem der im ersteren Fall positiven, im letzteren Fall negativen Änderung der
Bodenproduktivität, fällt in beiden Agrarsystemen die Abnahme der Gesamtfak-
torproduktivität 1939 bis 1944 ähnlich klar aus (Tabelle 8.10) : 30 Prozent im bri-
tischen Fall, je nach Variante 34, 37 oder 41 Prozent im österreichischen Fall. Dies
widerlegt die manchmal vertretene Ansicht des Krieges als Katalysator techni-
schen Fortschritts auf der Basis effizienter Ressourcennutzung ; stattdessen sticht
die Ineffizienz des jeweiligen Agrarsystems hervor.84 In beiden Fällen suchte der
Agrarsektor im Zuge der staatsgeleiteten Produktionskampagne schlicht mög-
lichst viele der knappen, auch von Militärapparat und Rüstungswirtschaft begehr-
ten Ressourcen an Land, Arbeit und Kapital einzusetzen – ohne dass dies stren-
gen Effizienzmaßstäben entsprach, wie der Verfall der Kapitalproduktivität um 43
bzw. 50 Prozent unterstreicht.85
Der britisch-österreichische Vergleich verweist, bei allen Unterschieden, auf
systemübergreifende Gemeinsamkeiten der Agrarentwicklung im Krieg. Auf der
institutionellen Ebene wird deutlich, dass der – im britischen Fall – weitgehende
und – im österreichischen Fall – eingeleitete Übergang des Agrarsystems nicht
allein Marktgesetzen folgte, sondern vor allem durch marktregulierende Staats-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937