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728 Eine grünbraune Revolution ?
faschistischen „Regierungsdiktatur“ zu verschleiern trachtete – eine Tendenz, die
nach Dollfuß’ Ermordung durch NS-Putschisten 1934 unter Bundeskanzler Kurt
Schuschnigg offensichtlich wurde.100
Der „agrarische Kurs“ zeigte jenseits der Kampfrhetorik von Befürwortern und
Gegnern in der Agrargesellschaft ambivalente Resultate. Die umfangreichen For-
derungskataloge der Bauernfunktionäre – Schließung der „Preisschere“ zwischen
Agrar- und Industrieprodukten, Hebung des Milch- und Fleischkonsums, He-
rabsetzung der Steuerlasten, Abbau der Soziallasten, Senkung der Kreditzinsen,
Schutz vor Exekutionen und so fort
– stießen auf heftigen Widerstand von Indus-
trievertretern und fanden unter Schuschniggs Kanzlerschaft in der Regierung we-
nig Gehör. Das Unvermögen des Staates, das Verschuldungsproblem in den Griff
zu bekommen, die zurückhaltende Subventionspolitik und die budgetschonende
Selbstfinanzierung der Agrarförderung („Futtermittellizenzgebühr“) belasteten die
bäuerliche Existenz.101 Doch die Probleme lagen nicht nur auf der Produzenten-
seite, sondern auch auf der Seite der Konsumenten ; denn die Agrarkrise der 1930er
Jahre war eher eine Unterkonsumtions- als eine Überproduktionskrise. Unter dem
budgetpolitischen Sparkurs der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur blieb die Kaufkraft
der durch Massenarbeitslosigkeit getroffenen Lohnabhängigen gering. Der Nah-
rungsmittelkonsum der Arbeiterschaft verlagerte sich von teureren Milch- und
Fleisch- zu billigeren Getreide- und Kartoffelprodukten. Der dramatische Verfall
der Milch-, Fleisch- und Holzpreise traf vor allem kleine und mittlere Viehzucht-
betriebe im Gebirge, die kaum auf alternative Marktprodukte ausweichen konnten ;
sie waren zunehmend Verschuldung und Zwangsversteigerungen ausgesetzt. Halb-
herzige Gegenmaßnahmen wie der Bergbauernhilfsfonds 1934 und die Besitzfes-
tigungsaktion 1937 boten wenig Abhilfe.102 Demgegenüber profitierten größere
Ackerbaubetriebe im nieder- und oberösterreichischen Flach- und Hügelland von
den günstigen Getreidepreisen. So verfehlte der „agrarische Kurs“ die verspro-
chene „gerechte“ Existenzbasis für den „Bauernstand“ in seiner Gesamtheit und
entpuppte sich als selektiver Protektionismus, der die Kluft zwischen einzelnen
Agrarregionen, Produktionszweigen und Betriebsgrößen vertiefte. Entgegen dem
Ideal „berufsständischer“ Solidarität entzog die in der Realität wachsende Konkur-
renz zwischen einzelnen Fraktionen der Agrargesellschaft dem ständestaatlichen
„System“ nach und nach die Legitimität – und bot dem Nationalsozialismus eine
Kontrastfolie zur Vision einer „Volksgemeinschaft“ mit bäuerlichem Antlitz.103
Der Zusammenbruch des „Dritten Reiches“, die Wiedererrichtung der Repub-
lik Österreich durch die alliierten Besatzungsmächte ‚von oben‘ und die Bundes-
länder ‚von unten‘ sowie die Bildung einer Großen Koalition aus Österreichischer
Volkspartei (ÖVP) und Sozialistischer Partei Österreichs (SPÖ) 1945 setzten den
politischen Rahmen für den landwirtschaftlichen „Wiederaufbau“ in der Nach-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937