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738 Eine grünbraune Revolution ?
bewirtschaftung ab 1950 ausgebaute Agrarmarktordnung galt jedoch bereits als
„vorübergehende Dauerlösung“, wie ein Zeitgenosse scharfsinnig anmerkte : „Die
Krisenerinnerung ist aus dem Gedächtnis der Landwirtschaft bis heute nicht ver-
schwunden, sie zeigt sich praktisch in allen Vorschlägen für die Agrarpolitik, der
nichtgelenkte Aufstieg der Jahre nach 1922 scheint hingegen vergessen.“122 Das
aus liberalkapitalistischer Sicht normalerweise ‚freie Spiel‘ der Marktkräfte war
einem anderen agrarpolitischen Normalzustand – dem marktregulierenden Inter-
ventionsstaat – gewichen.
Was die 1930er bis 1950er Jahre über die Brüche von 1938 und 1945 hinweg
verband, war die schrittweise Normalisierung des agrarischen Interventionsstaates
im Zuge selektiven Erinnerns und Vergessens, die Produzenten- und Konsumen-
tenvertreter über jedwede Interessenunterschiede hinweg im Kollektivgedächtnis
teilten. Der agrarpolitische Erwartungshorizont hatte sich vom alten, liberalistisch
orientierten Erfahrungsraum aus der Vorzeit der Krisenepoche abgelöst. Mittler-
weile wirkte ein neuer, aus dem staatlichen Krisenmanagement vor, im und nach
dem Krieg gespeister Erfahrungsraum auf den Erwartungshorizont ein : Der Na-
tionalstaat suchte seinen Agrarsektor wie einen Bauernhof zu leiten, ohne ihn zu
verstaatlichen. Dieser korporativistische Kurs, dem in der demokratisch-kapita-
listischen Doppelkrise der 1930er Jahre diktatorische, aber auch demokratische
Regimes folgten, peilte einen ‚dritten Weg‘ jenseits von Liberalismus und Sozia-
lismus an : Befanden sich die Produktionsmittel im Liberalismus in privater Hand,
wurden sie im Sozialismus verstaatlicht ; hingegen beließ der Korporativismus die
Produktionsmittel im Privateigentum und suchte deren Nutzung über öffentliche
Organisationen – staatliche Behörden und staatsnahe Verbände – zu steuern.123
Die korporativistische Arbeitsteilung erfuhr in diesen drei Jahrzehnten, über ge-
sellschaftliche Trennlinien hinweg, eine nachhaltige Umwertung – von einem
Zankapfel im Klassendissens zu einem sozialpartnerschaftlichen Konsensbestand.
Sinngemäß propagierte der frühere Reichsnährstands- und spätere Landwirt-
schaftskammer-Abteilungsleiter Eduard Hartmann als ÖVP-Landwirtschaftsmi-
nister und „Vater des Landwirtschaftsgesetzes“ den Leitspruch : „Agrarpolitik geht
alle an !“ In diesem Licht erscheinen die drei Jahrzehnte zwischen Weltwirtschafts-
krise und Nachkriegsboom als eine Art „Sattelzeit“,124 die den Agrarkorporativis-
mus125 im Denken und Handeln von Funktionseliten, aber auch von Teilen der
Land- und Stadtbevölkerung vom Ausnahme- zum Normalzustand erhob.
Mit der Normalisierung des Agrarkorporativismus verschob sich auch die
gesellschaftliche Rolle des „Bauerntums“. Der Kontrast zwischen der bauerntü-
melnden Metaphorik von Dollfuß’ Trabrennplatzrede und dem ambivalenten
Zielkatalog des Landwirtschaftsgesetzes illustriert die Gewichtsverschiebung
im agrarpolitischen Leitbild von der Ersten zur Zweiten Republik : Anders als
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937