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739Österreich
zwischen Krise und Boom
der tendenziell produzentenfreundliche und konsumentenfeindliche „agrarische
Kurs“ der frühen 1930er Jahre, der sich an den vermeintlichen Ansprüchen des
„Bauernstandes“ gegenüber der industriellen „Arbeiterklasse“ orientierte, zielte
die sozialpartnerschaftlich abgestimmte Agrarpolitik der späten 1950er Jahre auf
die Anpassung des bäuerlichen Familienbetriebs an die Ansprüche der Industrie-
gesellschaft. Damit war auch eine moralökonomische Umwertung des „gerechten
Preises“ verbunden : Bedeutete ‚gerecht‘ anfangs, die Existenz des „Bauernstandes“
in der Binnen- und Weltmarktkonkurrenz – auch gegen die Interessen anderer
Gesellschaftsklassen – abzusichern, heftete sich ‚Gerechtigkeit‘ schließlich an den
wohlfahrtsstaatlichen Schlüsselbegriff der „Einkommensparität“, der beabsichtig-
ten
– aber nie vollends verwirklichten
– Angleichung der bäuerlichen Einkommen
an die Löhne in anderen Wirtschaftssektoren. Die Existenzsicherung der bäuerli-
chen Familienwirtschaft im „agrarischen Wohlfahrtsstaat“ war für christ- und so-
zialdemokratische Parteien wie ÖVP und SPÖ gleichermaßen anschlussfähig : für
Erstere als Festigung der ländlichen Familien- und Dorfgemeinschaft als „Keim-
zellen“ der Gesellschaft, für Letztere als Nivellierung sozialer Ungleichheit in der
Klassengesellschaft.126
Die Gewichtsverlagerung vom paternalistischen „Bauernstand“ zur wohl-
fahrts- und leistungsorientierten Industriegesellschaft als bestimmendem Maß-
stab127 erweiterte auch den Wirkungsbereich der Staatsintervention. Je mehr
sich die Existenzsicherung des „Bauernstandes“ der paritätischen Anpassung der
Arbeits- und Lebensverhältnisse in der Industriegesellschaft unterordnete, umso
mehr vergrößerte sich das politische Aktionsfeld – nach außen hin von der Agrar-
zur Ernährungspolitik, nach innen hin von der Agrarmarkt- und Agrarpreis- zur
Agrarstrukturpolitik. Während die Markt- und Preispolitik über Eingriffe in den
Preismechanismus die Entscheidungen der Betriebsbesitzer/-innen indirekt zu
steuern suchte, griff die Strukturpolitik über die (Nicht-)Zuteilung von Ressourcen
viel direkter in die Betriebsführung ein.128 Nach strukturpolitischen Experimenten
vor dem Krieg, etwa der halbherzigen Besitzfestigungsaktion des „Ständestaates“,
verschmolzen Markt-, Preis- und Strukturpolitik in der Nachkriegszeit zu einer
ambivalenten Agrarpolitik im Sinn des Landwirtschaftsgesetzes : Einerseits suchte
der agrarische Interventionsstaat, entsprechend der durch den „Kalten Krieg“ zwi-
schen Ost und West aufgewerteten nationalen Ernährungssicherheit, den als not-
wendig erscheinenden Strukturwandel voranzutreiben. Andererseits trachtete er
den produktivistischen Übergang mittels „gerechter“, dem Paritätsziel verpflich-
teter Agrarpreise auf eine für den bäuerlichen Familienbetrieb – als Gegenmodell
zur sowjetischen Kolchose und US-amerikanischen Farm – verträgliche Weise
auszugestalten. Kurz, Forderung und Förderung bildeten die beiden Gesichter des
agrarpolitischen Januskopfes.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937