Seite - 740 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 740 -
Text der Seite - 740 -
740 Eine grünbraune Revolution ?
Die ambivalente Agrarpolitik äußerte sich in dem
– nicht nur in Österreich
– zu
beobachtenden Paradox, dass die Urteile zur Agrarentwicklung aus wirtschaftspo-
litischer Sicht meist skeptisch, aus sozialpolitischer Sicht aber meist euphorisch
ausfielen.129 Damit veränderte sich à la longue auch die Klassenlage des „Bauern-
standes“ : „Der Besitz als Klassenmerkmal verlor gegenüber dem Erwerbs- und
Versorgungsklassencharakter an Bedeutung.“130 Die Bauernorganisationen –
Landwirtschaftskammern, Bauernbünde und Genossenschaften – spielten im
Agrarkorporativismus eine wichtige Doppelrolle : einerseits als Agenturen des
Strukturwandels entsprechend industriegesellschaftlicher Ansprüche, andererseits
als dessen Ausgestalter entsprechend bäuerlicher Ansprüche – die in sich wider-
sprüchlich und daher umkämpft waren.131 Die Aufwertung selektiver gegenüber
protektiven Elementen der Agrarpolitik Ende der 1950er Jahre entsprach der be-
schleunigten Entagrarisierung der österreichischen Industriegesellschaft, deren
Agraranteil 1951 bis 1961 von 22 auf 16 Prozent sank.132 Gemäß des korporati-
vistischen Kompromisses bedurfte eine ‚moderne‘ (d. h. industrialisierte) Gesell-
schaft eines ‚modernen‘ (d. h. industrialisierten) Agrarsektors, der industriell ge-
fertigte Betriebsmittel abnahm, ausreichende und billige Agrarprodukte lieferte
und überschüssige Arbeitskräfte freigab. Der „österreichische Weg“ der Agrar-
politik war kein Sonderweg, sondern orientierte sich am selektiven Agrarprotek-
tionismus westeuropäischer Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und der 1957
gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).133 Allerdings greift
deren Charakterisierung als „agrarischer Wohlfahrtsstaat“134 zu kurz, weil sich das
Wohlfahrtsversprechen stets auch an nicht allseits erfüllbare Leistungsansprüche
knüpfte.
Der technische Wandel des österreichischen Agrarsystems hinkte dem institu-
tionellen Wandel nach
– was den Sattelzeit-Charakter der 1930er bis 1950er Jahre
unterstreicht. In der klassischen Sattelzeit zwischen Mitte des 18. und Mitte des
19. Jahrhunderts erhielten Schlüsselbegriffe ‚moderne‘ Bedeutungen, bevor diese in
der politisch-ökonomischen Doppelrevolution gesellschaftsverändernd wirkten.135
In ähnlicher Weise prägte die Schwellenzeit136 der 1930er bis 1950er Jahre eine
‚moderne‘ Bedeutung von Agrarentwicklung, bevor die „Grüne Revolution“137 im
Nachkriegsboom abhob. Erst Mitte der 1950er Jahre hatten die landwirtschaftli-
chen Produktivitätskennzahlen die Vorkriegsmarke nicht nur überschritten, son-
dern signalisierten einen revolutionären, fossilenergetisch befeuerten Wachstums-
schub. Dagegen verblassen notwendigerweise die nationalsozialistischen Ansätze
zur „Aufrüstung des Dorfes“ in den Alpen- und Donaureichsgauen mittels land-
und arbeitssparender Technologien. Dieser aus einer Nach-1945er-Perspektive als
bestenfalls evolutionär – und zudem gescheitert – erscheinende Take Off trug aus
einer Vor-1945er-Perspektive jedoch durchaus revolutionäre Züge. Eine Agrarre-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937