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747Versuchsstation
des völkischen Produktivismus
suchte der „(Gemeinschafts-)Aufbau“ die Produktivität der (Berg-)Bauernfamilie
im doppelten – technischen und „völkischen“ – Sinn zu heben. Damit waren un-
terschiedliche, einander ergänzende Geschlechterrollenentwürfe verbunden : Die
Planungen des Gemeinschaftsaufbaus wiesen in Richtung eines kapitalintensiven,
auf Grünlandbewirtschaftung und Milchviehhaltung spezialisierten Mittelbetriebs
unter männlicher Führung ; die Ehefrau des Bergbauernhofbesitzers sollte vor al-
lem als Hausfrau und Mutter dem „erbgesunden“ Nachwuchs dienen. Zwar brach
dieser Freilandversuch, einen technisch und „völkisch“ produktiven Bergbauern zu
züchten, nach der Kriegswende 1941/42 wegen Ressourcenmangels in sich zusam-
men. Gleichwohl entwarf er im Wechselspiel staatlicher Fremd- und bäuerlicher
Selbststeuerung die Konturen eines bergbäuerlichen Entwicklungspfades, der in
der Agrarrevolution nach dem Krieg richtungsweisend wurde.145
Beide Pioniernischen eröffneten ihren Akteuren den Ausblick auf einen vir-
tual farmer als Kern eines agrarischen Megaprojekts146, das vom Hauptstrom
der Agrarentwicklung und dessen Rückzugsnischen aus kaum zu erkennen war.
Dieser Entwurf einer „totalen Neuordnung“ des Agrarsystems verschob die Zeit-
und Raumkoordinaten der vor dem „Anschluss“ in Österreich vorherrschenden
Auffassung von Landwirtschaft : In zeitlicher Hinsicht markierte er einen Bruch
mit der abschätzig als „System“ bezeichneten Vergangenheit – vor allem mit dem
„Ständestaat“ und dessen behaupteter Unfähigkeit, die anstehenden Agrarpro-
bleme zu lösen. Zugleich richtete er die Gegenwart des Wirtschaftens an einer
plan- und machbaren Zukunft nach dem „Endsieg“ aus. In räumlicher Hinsicht
ordnete er die lokale Betriebs- und Haushaltsführung dem Nationalstaat als dem
zentralen Regulator der überregionalen Faktor- und Produktmärkte unter. Dieses
zukunfts- und staatsgeleitete Entwicklungsprojekt war alles andere als ‚antimo-
dern‘ gepolt ; vielmehr zielte es auf eine alternative Moderne147 jenseits von Libe-
ralismus und Sozialismus, eine – in den Worten eines Vordenkers – „organische
Agrarrevolution“ :148 Einerseits suchte es einen Kern an „gesundem“ Bauerntum
zur „rassischen“ Stärkung des „Volkskörpers“ – im Reichsgebiet als dem indust-
riellen Zentrum wie in den zu besiedelnden Agrarperipherien im „germanischen
Großraum“– zu stärken. Andererseits suchte es das bäuerliche Leistungspotenzial
im Zuge einer ‚nachholenden Modernisierung‘ der
– gegenüber dem „Altreich“ als
rückständig erachteten – ostmärkischen Landwirtschaft mittels technischer „Auf-
rüstung“ im Dienst größtmöglicher Nahrungsautarkie zu heben ; dies erforderte
bei abnehmenden Arbeitskraft- und zunehmenden Landressourcen zugleich eine
Akzentverlagerung von der Boden- zur Arbeitsproduktivität als Leistungsmaßstab.
Den ambivalenten Modernitätsentwurf einer „gesunden“, das heißt bevölkerungs-
und produktionstechnisch optimierten Agrarstruktur mit mittelbäuerlichem Zu-
schnitt fasse ich begrifflich als völkischen Produktivismus.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937