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748 Eine grünbraune Revolution ?
Der völkische Produktivismus war kein konziser, von allen Funktionsträgern im
Agrarapparat geteilter Masterplan aus der Schublade ; er lässt sich vielmehr als
teils geplanter, teils improvisierter Zusammenhang von manchmal auch umstrit-
tenen Planungsentwürfen, Expertenmeinungen, Notlösungen und so fort – kurz,
als emergente Verbindung einzelner Interventionen149 – begreifen. Dieses Mega-
projekt trug wie verwandte Projekte einer „radikalen Neuordnung“ in den euro-
päischen Diktaturen der Zwischenkriegszeit150 Züge des Hochmodernismus (high
modernism), der planmäßigen, auch gegen Widerstände durchgesetzten Umwäl-
zung gesellschaftlicher Verhältnisse durch einen autoritären Zentralstaat, getrie-
ben von der Utopie wissenschaftlich-technischen Fortschritts.151 Doch forderten
die Planungs- und Entscheidungseliten nur für „völkische“ oder produktivistische
Selektionseingriffe – etwa gegenüber dem jüdischen Großgrundbesitz oder unter-
produktiven „Kümmerbetrieben“ – staatliche Gewaltanwendung. Im Umgang mit
dem „deutschen Landvolk“ setzten sie trotz aller Leistungsansprüche vielmehr auf
vertrauensgestützte Zustimmung, wie etwa die paternalistische Wirtschaftsbera-
tung des Reichsnährstandes zeigt. So gesehen trug dieses Megaprojekt auch Züge
der am „menschlichen Maß“ orientierten Sozialtechnologie (social engineering), die
gesellschaftliche Fremdsteuerung durch Experten im staatlichen Auftrag nicht als
Selbstzweck, sondern als Mittel zur Selbststeuerung des Einzelnen in seiner „or-
ganischen Gemeinschaft“ begriff.152 Der völkische Produktivismus teilte mit dem
Hochmodernismus das revolutionäre Entwicklungsziel, mit der Sozialtechnologie
die evolutionären Mittel auf dem Weg zum Ziel.
Die Agrarmodernisierung in der Ostmark als Teil des Deutschen Reiches er-
weist sich gegenüber anderen faschistischen und autoritären Staaten Europas kei-
neswegs als Sonderfall, sondern teilte das ‚gemeinsame Minimum‘ faschistischer
Agrarpolitik : die agraristische Rhetorik, das Ziel nationaler Ernährungssicherheit,
den autoritären Staatsinterventionismus, die wissenschaftlich-technische Fort-
schrittsgläubigkeit, das korporativistische Bündnis von Staat und Agrarverbänden,
die militärstrategische Ausrichtung und die Unterordnung unter (rüstungs-)indus-
trielle Erfordernisse.153 Mussolini-Italien, Hitler-Deutschland, Franco-Spanien
und andere (halb-)faschistische Regimes folgten im Grunde derselben Doppel-
strategie autoritär-staatlicher Lenkung des Agrarsektors : einerseits – im Unter-
schied zu liberalistischen und sozialistischen Modernisierungsprojekten
– (mittel-)
bäuerliche Strukturen zu festigen, andererseits
– ähnlich wie die Agrarmodernisie-
rung nach US-amerikanischem und sowjetischem Muster – den wissenschaftlich-
technischen Strukturwandel auf dem Land voranzutreiben. Dieser transnational
verflochtene Entwicklungskurs in Richtung einer alternativen Moderne war indes
in der Gewichtung ideokratischer und technokratischer Elemente nach Staaten
unterschiedlich ausgeprägt – je nach Größe und Gestalt des nationalen Agrar-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937