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Zu den architektonischen Zitaten im Gemälde
„Das öffentliche Gericht zu Tulln“
Die links im Bild dargestellte Tullner Stadtmauer mit
Rundturm war zur Entstehungszeit des Gemäldes noch
größtenteils erhalten.386 Diese teilweise bis ins 13.
Jahr-hundert387
zurückgehende Stadtbefestigung wurde erst
in den Jahren 1861 – 1864 bis auf den Turm und wenige
Mauerreste geschleift. Sickingen beschrieb 1835 in seiner
Darstellung Tullns noch den Befestigungsbau und seine
vier Tore:
„Hier bestehen auch nach allen vier Weltgegenden Thore,
nämlich das St. Pöltner , Frauen, Wiener, und das Wasser
thor, mit viereckigen Thürmen und Ziegeldach […]. Übri
gens ist die Stadt rings mit einer steinernen Mauer umgeben,
welche noch Ueberreste eines alten runden Vertheidigungs
thurmes, gegen Westen
enthält.“388Im
Zuge des erwachenden Interesses an Österreichs
mit-telalterlicher
Vergangenheit in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts kam es auch zu einer intensiven und
sys-tematischen
Aufnahme und Erforschung von Bauwerken
aus dieser Zeit. Schon 1817 lag der Band Denkmale der
Baukunst und Bildnerey des Mittelalters in dem österreichi
schen Kaiserthume des Historikers Eduard Lichnowsky vor,
welcher unter der Aufsicht von Joseph Fischer, Professor
an der Akademie, illustriert wurde und dem damaligen
Kurator der Akademie, Fürst Metternich, gewidmet war.
In das 1826 herausgegebene Werk 264 Donau Ansich
ten wurde auch eine Abbildung der Dreikönigskapelle von
Adolf Kunike aufgenommen; Rump bezeichnete sie hier
noch als römischen Tempel:
„Tulln (wo einst die Römer hausten) ist eine alte […] lan
desfürstliche Stadt […] mit einem alten, römischen Tempel,
der noch ganz unbeschädigt, aber in eine Kirche verwandelt
ist […].389
„Im Gegensatze zu dem harten Rechte, welches in anderen
Ländern und Städten die Fürsten über Verlassenschaften,
Witwen und Waisen sich zuschrieben, waren die Bestimmun
gen des von Leopold dem Glorreichen erlassenen Wiener
Stadtrechtes ungemein milde.“381
Kupelwieser veranschaulicht in seinem Gemälde durch
die Darstellung der Frau mit ihrem Kind, die in der Linken
auch einen Geldbeutel trägt, diese besonders gegen
Wit-wen
und Waisen milde und gerechte Gesetzgebung
Leo-polds.
Nicht nur Leopold der Glorreiche, sondern auch
diese Figur erfährt also im Vergleich zu der früheren
Ver-sion
eine Umdeutung: Erst Bittstellerin und Empfängerin
von Almosen, wird sie zu einer Person, der dank der
Weis-heit
Leopolds Gerechtigkeit widerfährt.
Als gerechter Friedensstifter wird Leopold der
Glor-reiche
bereits im Babenberger Stammbaum von
Kloster-neuburg
geschildert, wo er zwischen Kaiser Friedrich II.
und Papst Gregor IX. vermittelnd dargestellt wird. Die
konkrete Szene in Kupelwiesers Bild – ein Landtaiding zu
Tulln – bezieht sich auf das neue Landrecht, das Leopold
seiner Mark verlieh. Hormayr beschrieb diese von
Leo-pold
VI. eingeführte Form der Gerichtsbarkeit bereits
1814 im Österreichischen Plutarch:
„Dreymal des Jahres saß der Herzog selbst oder dessen Stell
vertreter öffentlich unter freyem Himmel zu Gericht; die
Wahlstätten waren: Tuln, Mautern,
Neuburg.“382In
seinem Werk Wiens Geschichte und seine Denkwürdig
keiten (1823 – 1825) zitiert er dann direkt aus dem
Land-recht
Leopolds:
„Das sindt die Recht undt Gewohnheit des Landts, bei Her
zog Leopolden von Österreich, das kein Landes Herr soll kein
taidinge haben, nur über sechs Wochen und nicht darhinden
und sollen auch die taidinge sein nur zu Neuburg, zu Tulln,
und zu Mautern.“ 383
Übereinstimmend damit heißt es in dem Reimgedicht des
Seifried Helbling aus den ersten Tagen der
habsburgi-schen
Herrschaft, das Hormayr im Anschluss wörtlich
anführt:
„Bey einem Leopold es geschah / Der diz Landes Herre
was, / sich fueget das man vor im laß / des Landes Recht ez
was sein bett / Man nannt im Drey Stett / Da er die Gerichte
nit sollte sparn / Neuenburch, Tulln, Mautarn / Da sold er
haben offenbar / Drei Landtaidnich in dem
Jar.“1844
gab der Historiker Theodor Georg von Karajan eine
Gesamtausgabe der Gedichte Seifried Helblings
her-aus.384
Die dort publizierte Version des Gedichts, die von
der bei Hormayr orthographisch abweicht, übernahm
schließlich Ziska 1847 in seine Geschichte der Stadt
Wien.385 381 Ziegler (1843 – 1849) 1. Bd., p. 265.
382 Hormayr (1807 – 1814) 19/20 Bd., (1814), p.
63.383
Hormayr (1823 – 1825) 2. Bd., Heft 3, p.
78f.384
Karajan (1844) Vers 652 –
660.385
Ziska (1847) p.
81.386
Bis 1850/70 blieb Tulln im Wesentlichen auf die ummauerte
Altstadt beschränkt. Siehe dazu: Aichinger-Rosenberger (2003)
p.
2401.387
Die neuere Geschichtsforschung geht davon aus, dass die
Stadt-mauer
im Zuge des letzten großen Ausbaus der Stadt unter
Leo-pold
VI. etwa 1220 errichtet wurde. Vgl.: Lechner (1974) p. 246.
388 Sickingen (1835) Bd. 1, Heft 1, p.
170.389
Kunike (1826) p. 13, Text zu Bild Nr. CIX. Die Kapelle dürfte zu
der Zeit nur wenig bekannt gewesen sein. Kunike schreibt: „Hr.
Weidmann scheint den merkwürdigen römischen Tempel zu Tulln nicht
gekannt zu haben, indem er in seinem ,Wegweiser‘ auf Seite 125 von
Tulln versichert: ,Merkwürdiges ist daselbst nichts als einige Fabriken‘.“
Kunike (1826) p. 14.
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Das zusammengedrängte Gedenken
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Das zusammengedrängte Gedenken
- Autor
- Sigrid Eyb-Green
- Verlag
- Bibliothek der Provinz
- Ort
- Weitra
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-99028-075-1
- Abmessungen
- 24.0 x 27.0 cm
- Seiten
- 312
- Schlagwörter
- Leopold Kupelwieser, Freskenzyklus, Geschichtsdarstellung, 19. Jahrhundert, Werkprozess, Karton, Fresko, Papier, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 13
- Zur Baugeschichte der Niederösterreichischen Statthalterei 15
- Die Genese des Bildprogramms 19
- Erster Programmentwurf 19
- Der zweite Gesamtentwurf 35
- Zweiter und dritter Programmentwurf 39
- Die Aquarellentwürfe 40
- Der Freskenzyklus Einleitung und Überblick 43
- Zu den schriftlichen und bildlichen Quellen Leopold Kupelwiesers 45
- Die einzelnen Bildfelder: Bezüge, Quellen, Intentionen 47
- Die gekrönte Austria 47
- Odoakervor dem heiligen Severin (465 – 470) 56
- LeopoldI. stürmt Melk (984) 63
- Die drei Erbauer der St. Stephanskirche 68
- Die Gründung der Universität Wien durch Rudolf IV. (1364) 77
- Kaiser Marc Aurel: Markomannenschlacht und Tod 81
- Zug Karls des Großen gegen die Hunnawaren 85
- Leopold erhält von Otto II. die Ostmark zum Lehen 90
- Rudolf I. verleiht die Lehen an Albrecht I 95
- Das öffentliche Gericht zu Tulln (1200) 100
- Ferdinand I. setzt 1540 die niederösterreichische Regierung ein 109
- Die Türkenkriege der Jahre 1529, 1683 und 1697 116
- Die Aufgebote von 1797 125
- Erzherzog Karl in der Schlacht von Aspern 132
- Der Kongress zu Wien 1814 137
- Einleitungzu den Herrscherporträts 143
- Rudolf I 144
- MariaTheresia 148
- Maximilian I 151
- Joseph II 154
- Albrecht II 156
- Ferdinand II 158
- Ferdinand I. der Gütige 161
- Franz Joseph I 164
- Rezensionen 166
- Fresko und Karton als Formen öffentlicher Kunst Das Fresko: zur Konstruktion eines Gattungsbegriffs 167
- Die Praxis nazarenischer Wandmalerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Technik und Stil 168
- Öffentliche Kunst im Spannungsfeld zwischen Auftraggeber und Publikum 174
- Formen der Öffentlichkeit: Leopold Kupelwieser und die Situation der Geschichtsmalerei in Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 175
- Leopold Kupelwiesers Statthalterei-Zyklus und Entwurf einer Geschichtshalle: österreichische Identitäten und ihre Inszenierungen 188
- Zum Problem der „geschichtlichen Wahrheit“ in der Geschichtsmalerei 199
- Kupelwiesers Statthalterei-Kartons im Kontext nazarenischer Kartonkunst: „Vom Wesen des Kunstwerks“ 201
- Materialtechnologische Aspekte Der Arbeitsprozess im Überblick: Kartonzeichnungen, Probetafeln und Freskoarbeiten 215
- Zur Herstellung der Kartons 220
- Die Kartons zu den fünf Hauptgemälden der Decke 220
- Fünf Kartons zu Herrscherporträts: Rudolf I., Maximilian I., Ferdinand II., Maria Theresia und Joseph II 224
- Die Kartons zu den Allegorien 225
- Die Kartons zu den historischen Gemälden an den Wänden 231
- Die Kartons zu den beiden Friesen 234
- Die weitere Verwendung von neun Kartons als Deckenbilder im Palais Questenberg-Kaunitz 235
- Die Präsentation der Kartons an der Decke des Palais Questenberg-Kaunitz Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1940 244
- Übergabe aller Kartons 249
- Zur Aufbewahrung jener Kartons, die nicht im Palais Questenberg-Kaunitz präsentiert wurden 249
- Ausstellungen der Kartons 252
- Herstellung und Verwendung von Kartons für Wand- und Deckengemälde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Beispiele und Quellenliteratur 257
- Die Papierbahn 257
- Die Zeichnung 260
- Die Fixierung 263
- Die Übertragung an die Wand 265
- Die Fresko-Probetafeln 267
- Kupelwiesers Palette und Maltechnik 270
- Kupelwiesers Papiere: Ein Überblick über die Papierproduktion in der Habsburgermonarchie um 1850 273
- Die Papiere für Skizzen und Vorstudien 273
- Transparentpapiere 276
- Papiere für die Kartons 279
- Anhang: Programmentwürfe und Korrespondenzen Nö. Landesarchiv, Varia 8/1a: Programmentwurf I 294
- Nö. Landesarchiv, Varia 8/1b: Programmentwurf II 296
- Nö. Landesarchiv, Varia 8/1c: Programmentwurf III 297
- Nö. Landesarchiv, Varia 8: Schreiben von Leopold Kupelwieser an Freiherrn Kübeck von Kübau 297
- Nö.Landesarchiv, Varia 8: Anweisung Kübeck von Kübaus an Freiherrn Talatzko von Gestiecek 298
- Literaturverzeichnis 301
- Quellenverzeichnis 305
- Personenregister 306