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Die meisten historischen Figuren waren in einem
spezifi-schen
lokalen und kulturellen Kontext verankert, der nur
selten eine gesamtösterreichische Deutung zuließ und die
Stilisierung einer bestimmenden nationalen
Identitätsfi-gur
verhinderte. Damit fehlte Österreich auch ein
verbind-licher
Gründungsmythos, ein Ursprung, aus dem das
Iden-tische
abgeleitet werden konnte, um den Abstand zu einer
zeitlich entfernten Herkunft zu überbrücken.735 Im
Statt-halterei-Zyklus
finden sich stattdessen gleich mehrere
Ursprünge: der Übergang Marc Aurels über die Donau, der
den herannahenden Untergang des ehemaligen Weltreichs
andeutet, „durch dessen Folgen Oesterreich seine selbstän
dige Entwicklung erhielt“736, Karl der Große als Gründer der
Ostmark, Severin, der den christlichen Glauben in
Öster-reich
begründete, und schließlich die Anfänge der beiden
großen Herrscherdynastien in den zwei Belehnungsszenen.
Zum Problem der „geschichtlichen Wahrheit“
in der
GeschichtsmalereiDie
Tatsache, dass in den beiden Belehnungsszenen
Rudolf I. und Leopold I. in ihren Positionen als
Landes-fürsten
und nicht im Kontext ihrer legendenhaften Taten
dargestellt werden, verweist auch auf Veränderungen im
Anspruch an die Geschichtsmalerei, die sich zu der Zeit
abzuzeichnen begannen. Dies führte zum Problem der
geschichtlichen Wahrheit, einer in der Geschichtsmalerei
zentralen und viel diskutierten Fragestellung.
Noch im 18. Jahrhundert bemerkte der englische
Geschichtsmaler Sir James Thornhill zu seinem Gemälde
Die Landung George I. in England, er habe das Geschehen
gemalt, wie es hätte sein sollen.737 Aus dem ought to be
wurde im Historismus das wie es hätte sein können. Die
Begegnung Rudolfs mit dem Priester, die Rettung des
römisch-deutschen Kaisers Otto I. auf der Jagd durch den
ersten Babenberger Leopold und die ursprünglich
geplante und später aus dem Programm wieder
heraus-genommene
Darstellung der Gründung Klosterneuburgs
in der Schleierszene konnten wohl einem wissenschaftli
chen Zugang zur Geschichte nicht mehr gerecht werden.
1842, also nur wenige Jahre vor der Entstehung der
Statt
halterei-Fresken, kam es aus einem ähnlichen Anlass
zu einem Streit um Julius Schnorr von Carolsfelds Gemälde
Der Sieg Karls über die Sachsen bei Fritzlar: Der Auftrag-
Zyklus, nämlich „dass in Österreich zu allen Zeiten jede
Regenten
Tugend in ihrer schönsten Entfaltung durch den
Herrscher geübt wurde“730 bestätigt. Hier zeigt sich
deut-lich
die Tendenz zur Reduktion der Komplexität des
His-torischen
und zur Komprimierung, Konzentration und
Vereinfachung, die untrennbar mit der Visualisierung von
Mythen verbunden
ist.731Der
Belehnungsszene mit Albrecht I. ist das Gemälde
Leopold I. erhält von Otto II. die Ostmark zugeordnet.
„[…] die anderen zwey gleichförmigen Bilder […] bezeich
nen die zwey großen Dynastien, welche Österreich führten“,
heißt es dazu im zweiten Programmentwurf.732 Leopold I.
und Rudolf I. werden hier nicht in der Bildtradition der
vaterländischen Geschichtsmalerei als mutige
Verteidi-ger
des römisch-deutschen Kaisers bzw. als fromme
Ahnherren mit dem Priester dargestellt, sondern in ihrer
Funktion als Begründer der beiden großen
österreichi-schen
Herrscherdynastien. Hier orientiert sich die Suche
nach Identität deutlich an der Dynastie, die als Bürge
von Kontinuität und geordneten Verhältnissen das Reich
durch Jahrhunderte einigte. Nachdem Hormayr
Öster-reich
enttäuscht verlassen hatte, bemerkte er dazu:
„Man hat gar keine Geschichte der Nationen, sondern nur
eine durch Wien und Innsbruck, Prag und Ofen fortlaufende
Geschichte der Dynastie, an welchen historischen Cichorien
surrogat statt des wahren Caffees uns die Jesuiten gewöhnt
haben.“733
Obwohl die beiden Belehnungsszenen den Beginn der
zwei Herrscherdynastien in Österreich markieren, sind
sie doch nicht Ursprungsmythen im eigentlichen Sinn.
Kupelwiesers Programm greift in den beiden
Deckenfrie-sen
noch viel weiter in die Vergangenheit zurück und
fasst somit den Begriff Österreich weiter und nicht als
ident mit seinen beiden Herrscherhäusern auf. Die
Sze-nen
Karl der Große besiegt die Hunnawaren und Marc
Aurels Übergang über die Donau unweit Wien, sein Kampf
gegen die Quaden und sein Tod sind bezeichnenderweise
in Grisaillemalerei ausgeführt; sie erzählen eine graue, weit
zurückliegende Vergangenheit, deren Auswirkungen auf die
Gegenwart nur mittelbar erfahr- und benennbar sind. Karl
der Große ist in diesem Kontext keine Gründerfigur wie
etwa in Deutschland, wo mehrere geschichtliche
Wandma-lerei-Zyklen
ausschließlich Leben und Wirken Karls des
Großen thematisierten und wiederholt seine
fundamen-tale
Bedeutung für das deutsche Volk beschworen.
Anders als etwa auch Frankreich oder Ungarn hatte
der österreichische Kaiserstaat keine Gründerfigur, aus
deren heldenhaften Taten man das Identische, das
Eigentliche ableiten hätte können.
„Im Vergleich zu anderen Staaten […] scheint Österreich
ein überregional anerkannter Nationalheld zu fehlen.“734 730 Programmentwurf I, siehe
Anhang.731
Telesko (2006) p.
30.732
Programmentwurf II, siehe Anhang.
733 Brief von Joseph Freiherr von Hormayr an den böhmischen
Gra-fen
Caspar Sternberg, datiert 1829, nachdem Hormayr Österreich
verlassen hatte. Zit. nach: Häusler (1991) p.
154.734
Telesko (2006) p.
26.735
Vgl. Pohl (2004) p.
24.736
Kielmannsegg
(1891).737
Busch (1990) p. 60.
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Das zusammengedrängte Gedenken
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Das zusammengedrängte Gedenken
- Autor
- Sigrid Eyb-Green
- Verlag
- Bibliothek der Provinz
- Ort
- Weitra
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-99028-075-1
- Abmessungen
- 24.0 x 27.0 cm
- Seiten
- 312
- Schlagwörter
- Leopold Kupelwieser, Freskenzyklus, Geschichtsdarstellung, 19. Jahrhundert, Werkprozess, Karton, Fresko, Papier, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 13
- Zur Baugeschichte der Niederösterreichischen Statthalterei 15
- Die Genese des Bildprogramms 19
- Erster Programmentwurf 19
- Der zweite Gesamtentwurf 35
- Zweiter und dritter Programmentwurf 39
- Die Aquarellentwürfe 40
- Der Freskenzyklus Einleitung und Überblick 43
- Zu den schriftlichen und bildlichen Quellen Leopold Kupelwiesers 45
- Die einzelnen Bildfelder: Bezüge, Quellen, Intentionen 47
- Die gekrönte Austria 47
- Odoakervor dem heiligen Severin (465 – 470) 56
- LeopoldI. stürmt Melk (984) 63
- Die drei Erbauer der St. Stephanskirche 68
- Die Gründung der Universität Wien durch Rudolf IV. (1364) 77
- Kaiser Marc Aurel: Markomannenschlacht und Tod 81
- Zug Karls des Großen gegen die Hunnawaren 85
- Leopold erhält von Otto II. die Ostmark zum Lehen 90
- Rudolf I. verleiht die Lehen an Albrecht I 95
- Das öffentliche Gericht zu Tulln (1200) 100
- Ferdinand I. setzt 1540 die niederösterreichische Regierung ein 109
- Die Türkenkriege der Jahre 1529, 1683 und 1697 116
- Die Aufgebote von 1797 125
- Erzherzog Karl in der Schlacht von Aspern 132
- Der Kongress zu Wien 1814 137
- Einleitungzu den Herrscherporträts 143
- Rudolf I 144
- MariaTheresia 148
- Maximilian I 151
- Joseph II 154
- Albrecht II 156
- Ferdinand II 158
- Ferdinand I. der Gütige 161
- Franz Joseph I 164
- Rezensionen 166
- Fresko und Karton als Formen öffentlicher Kunst Das Fresko: zur Konstruktion eines Gattungsbegriffs 167
- Die Praxis nazarenischer Wandmalerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Technik und Stil 168
- Öffentliche Kunst im Spannungsfeld zwischen Auftraggeber und Publikum 174
- Formen der Öffentlichkeit: Leopold Kupelwieser und die Situation der Geschichtsmalerei in Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 175
- Leopold Kupelwiesers Statthalterei-Zyklus und Entwurf einer Geschichtshalle: österreichische Identitäten und ihre Inszenierungen 188
- Zum Problem der „geschichtlichen Wahrheit“ in der Geschichtsmalerei 199
- Kupelwiesers Statthalterei-Kartons im Kontext nazarenischer Kartonkunst: „Vom Wesen des Kunstwerks“ 201
- Materialtechnologische Aspekte Der Arbeitsprozess im Überblick: Kartonzeichnungen, Probetafeln und Freskoarbeiten 215
- Zur Herstellung der Kartons 220
- Die Kartons zu den fünf Hauptgemälden der Decke 220
- Fünf Kartons zu Herrscherporträts: Rudolf I., Maximilian I., Ferdinand II., Maria Theresia und Joseph II 224
- Die Kartons zu den Allegorien 225
- Die Kartons zu den historischen Gemälden an den Wänden 231
- Die Kartons zu den beiden Friesen 234
- Die weitere Verwendung von neun Kartons als Deckenbilder im Palais Questenberg-Kaunitz 235
- Die Präsentation der Kartons an der Decke des Palais Questenberg-Kaunitz Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1940 244
- Übergabe aller Kartons 249
- Zur Aufbewahrung jener Kartons, die nicht im Palais Questenberg-Kaunitz präsentiert wurden 249
- Ausstellungen der Kartons 252
- Herstellung und Verwendung von Kartons für Wand- und Deckengemälde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Beispiele und Quellenliteratur 257
- Die Papierbahn 257
- Die Zeichnung 260
- Die Fixierung 263
- Die Übertragung an die Wand 265
- Die Fresko-Probetafeln 267
- Kupelwiesers Palette und Maltechnik 270
- Kupelwiesers Papiere: Ein Überblick über die Papierproduktion in der Habsburgermonarchie um 1850 273
- Die Papiere für Skizzen und Vorstudien 273
- Transparentpapiere 276
- Papiere für die Kartons 279
- Anhang: Programmentwürfe und Korrespondenzen Nö. Landesarchiv, Varia 8/1a: Programmentwurf I 294
- Nö. Landesarchiv, Varia 8/1b: Programmentwurf II 296
- Nö. Landesarchiv, Varia 8/1c: Programmentwurf III 297
- Nö. Landesarchiv, Varia 8: Schreiben von Leopold Kupelwieser an Freiherrn Kübeck von Kübau 297
- Nö.Landesarchiv, Varia 8: Anweisung Kübeck von Kübaus an Freiherrn Talatzko von Gestiecek 298
- Literaturverzeichnis 301
- Quellenverzeichnis 305
- Personenregister 306