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„Das öffentliche Gericht zu Tulln“ –
Entstehungsgeschichte und Vorbilder
Auf dem ersten Gesamtentwurf zu den Deckengemälden
ebenso wie auf der damit in Zusammenhang stehenden
Pauszeichnung362 wird Leopold der Glorreiche als anteil
nehmender Herrscher zusammen mit seiner Gemahlin
Theodora auf den Straßen Wiens gezeigt, inmitten seiner
Untertanen. (Abb. 141,
142)Eine
kniende Frau mit Kind empfängt von einem
Mann aus dem Gefolge Leopolds Geldmünzen, während
der Markgraf von einer Gruppe Kaufleute empfangen
wird, die ihm offenbar eine Petition vorlegen. Die
ver-schnürten
Waren und Ballen im Vordergrund und die
Baustelle im Hintergrund sind Hinweise auf den
wirt-schaftlichen
Aufschwung und die bedeutende
Erweite-rung
Wiens als Folge des 1221 von Leopold verliehenen
Stadtrechts und der Erklärung Wiens zur Stapelstadt.363
„Er [Leopold, Anm.] erhob auch Wien zu einer Handels
stadt, verlegte das bisher in Haimburg befindlich gewesene
Stappelrecht hierher und machte sie zur Legstätte der aus
Deutschland und Ungarn gehenden Waaren.“364
Die Baustelle könnte konkret auf den Bau der Burg365
ver-weisen,
den schon Carl Ruß in einer lavierten
Federzeich-nung
mit dem Titel Herzog Leopold VI., der Glorreiche baut
die Burg in Wien 1212366 darstellte. Möglicherweise stellt
die Szene im Hintergrund aber auch den Bau der
Stadt-mauer
dar und bezieht sich somit auf den Ausbau der
Befestigungsanlage um Wien, der mit dem
österreichi-schen
Anteil des Lösegeldes für Richard Löwenherz
finan-ziert
werden konnte.
In der zweiten Entwurfszeichnung für den gesamten
Freskenzyklus367 wird dasselbe Thema variiert und kom-
orientierte sich Kupelwieser möglicherweise an der
Dar-stellung
Leopolds III. aus dem Babenberger Stammbaum
in Klosterneuburg361, auf dem der Markgraf ebenfalls den
roten Herzogsmantel mit breitem Hermelinkragen und
ein Untergewand mit goldenen Lärchen auf blauem
Grund trägt. Der Herzogshut aus roter Samthaube,
Her-melinkranz
und den mit einem Kreuz verzierten Bügeln
stimmt mit dieser Abbildung aus dem 15. Jahrhundert
gleichfalls überein. In der linken Hand hält Leopold ein
Zepter, seine rechte Hand ist leicht erhoben und deutet,
als Verweis auf den höheren göttlichen Richter und
des-sen
Gesetz, nach
oben.Der
Markgraf ist von seinen Räten, darunter auch
einem Geistlichen, umgeben, deren nachdenkliche
Mie-nen
die Bedeutung des Geschehens widerspiegeln. Links
im Bild werden zwei Verurteilte gefesselt von Soldaten
durch das Stadttor abgeführt, den rechten Bildrand
nimmt eine Gruppe von Leuten ein, die das Geschehen
beobachten.
Im Vordergrund des Bildes befindet sich eine Frau, zu
deren Gunsten das Urteil ausgefallen war, mit ihren
bei-den
Kindern. Während sie nach vorne aus dem Bild
her-aus
dem Betrachter entgegenschreitet, wendet sie den
Blick dankbar zurück zu dem über ihr thronenden
Mark-grafen.
Sie hält im rechten Arm ein kleines Kind, ihren
linken Arm umfasst ein schon älteres Mädchen. Im
Hin-tergrund
wird die Komposition links von den
Stadt-mauern
Tullns und rechts von der Dreikönigskapelle
ein-gerahmt.
Dazwischen öffnet sich der Ausblick auf einen
burgähnlichen
Gebäudekomplex.Durch
zahlreiche Weisungsgesten und Blickachsen
wird dem Betrachter die Orientierung im Bild erleichtert.
Zunächst geht die Leserichtung vom Mittelpunkt der
Komposition, Leopold VI. (VII.), aus und folgt dem
aus-gestreckten
Arm des Mannes rechts von Leopold an den
Bildrand, wo die Verurteilten abgeführt werden. Die Frau
aus dem Volk in der rechten oberen Ecke des Bildes führt
den Blick mit ihrem ausgestreckten Arm wiederum auf
die weibliche Figur in der unteren Bildzone, der durch
das gefällte Urteil Gerechtigkeit widerfuhr. Die Räte
wen-den
sich alle dem Markgrafen zu und auch die
Frauen-figur
im Vordergrund hat ihre Augen auf ihn gerichtet,
wodurch seine vorrangige Stellung – inhaltlich wie auch
kompositionell – noch betont
wird.Bis
auf die Soldaten und Leopold selbst sind alle
Figu-ren
im Bild in zeitlos-antike Gewänder gehüllt. Über
einem engen Untergewand tragen sie weite Mäntel in
kräftigen Farben, die mit Spangen über der Schulter
befestigt werden. Bei der weiblichen Figur im
Vorder-grund
mit ihrem Kopf und Schultern bedeckenden leicht
gebauschten Tuch und den in weichen Falten fallenden
Kleidern ist der Einfluss Raffaels besonders deutlich. 361 Der Babenberger Stammbaum enthält auch ein Bild Leopolds des
Glorreichen, der jedoch einen roten Mantel mit schmalen
Her-melinbesätzen
trägt, der das Untergewand vollständig verdeckt;
auch bei der Form des Herzogshutes gibt es keine
Übereinstim-mung
zwischen der Darstellung Kupelwiesers und jener des
Stammbaums.362
Niederösterreichisches Landesmuseum, Inv. Nr.
7000/1041.363
„In Wien mussten die Waaren, bevor sie nach Ungarn gingen, feil
geboten werden.“ Arneth (1827) p.
51.364
Ziska (1847) p.
80.365
Der heute unter dem Namen „Schweizerhof“ bekannte
Trakt.366
Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, PK 783A,
Abb. Nr. 63, vor 1843. Herzog Leopold steht hier ganz links im
Bild auf der Stadtmauer und begutachtet die Pläne der Burg, auf
die der Baumeister mit ausgestrecktem Arm weist. Den gesamten
Mittelgrund nimmt die Darstellung der Burg selbst bzw. der
Ver-such
einer Rekonstruktion dieser zum Zeitpunkt ihrer Erbauung
im Jahre 1212 ein. Im Hintergrund links erkennt man den
Ste-phansdom
– noch ohne Südturm –, der sich damals noch
außer-halb
der Stadtmauer befand.
367 Niederösterreichisches Landesmuseum, Inv. Nr. 7000/348.
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Das zusammengedrängte Gedenken
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Das zusammengedrängte Gedenken
- Autor
- Sigrid Eyb-Green
- Verlag
- Bibliothek der Provinz
- Ort
- Weitra
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-99028-075-1
- Abmessungen
- 24.0 x 27.0 cm
- Seiten
- 312
- Schlagwörter
- Leopold Kupelwieser, Freskenzyklus, Geschichtsdarstellung, 19. Jahrhundert, Werkprozess, Karton, Fresko, Papier, Wien
- Kategorie
- Kunst und Kultur
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung 13
- Zur Baugeschichte der Niederösterreichischen Statthalterei 15
- Die Genese des Bildprogramms 19
- Erster Programmentwurf 19
- Der zweite Gesamtentwurf 35
- Zweiter und dritter Programmentwurf 39
- Die Aquarellentwürfe 40
- Der Freskenzyklus Einleitung und Überblick 43
- Zu den schriftlichen und bildlichen Quellen Leopold Kupelwiesers 45
- Die einzelnen Bildfelder: Bezüge, Quellen, Intentionen 47
- Die gekrönte Austria 47
- Odoakervor dem heiligen Severin (465 – 470) 56
- LeopoldI. stürmt Melk (984) 63
- Die drei Erbauer der St. Stephanskirche 68
- Die Gründung der Universität Wien durch Rudolf IV. (1364) 77
- Kaiser Marc Aurel: Markomannenschlacht und Tod 81
- Zug Karls des Großen gegen die Hunnawaren 85
- Leopold erhält von Otto II. die Ostmark zum Lehen 90
- Rudolf I. verleiht die Lehen an Albrecht I 95
- Das öffentliche Gericht zu Tulln (1200) 100
- Ferdinand I. setzt 1540 die niederösterreichische Regierung ein 109
- Die Türkenkriege der Jahre 1529, 1683 und 1697 116
- Die Aufgebote von 1797 125
- Erzherzog Karl in der Schlacht von Aspern 132
- Der Kongress zu Wien 1814 137
- Einleitungzu den Herrscherporträts 143
- Rudolf I 144
- MariaTheresia 148
- Maximilian I 151
- Joseph II 154
- Albrecht II 156
- Ferdinand II 158
- Ferdinand I. der Gütige 161
- Franz Joseph I 164
- Rezensionen 166
- Fresko und Karton als Formen öffentlicher Kunst Das Fresko: zur Konstruktion eines Gattungsbegriffs 167
- Die Praxis nazarenischer Wandmalerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Technik und Stil 168
- Öffentliche Kunst im Spannungsfeld zwischen Auftraggeber und Publikum 174
- Formen der Öffentlichkeit: Leopold Kupelwieser und die Situation der Geschichtsmalerei in Österreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts 175
- Leopold Kupelwiesers Statthalterei-Zyklus und Entwurf einer Geschichtshalle: österreichische Identitäten und ihre Inszenierungen 188
- Zum Problem der „geschichtlichen Wahrheit“ in der Geschichtsmalerei 199
- Kupelwiesers Statthalterei-Kartons im Kontext nazarenischer Kartonkunst: „Vom Wesen des Kunstwerks“ 201
- Materialtechnologische Aspekte Der Arbeitsprozess im Überblick: Kartonzeichnungen, Probetafeln und Freskoarbeiten 215
- Zur Herstellung der Kartons 220
- Die Kartons zu den fünf Hauptgemälden der Decke 220
- Fünf Kartons zu Herrscherporträts: Rudolf I., Maximilian I., Ferdinand II., Maria Theresia und Joseph II 224
- Die Kartons zu den Allegorien 225
- Die Kartons zu den historischen Gemälden an den Wänden 231
- Die Kartons zu den beiden Friesen 234
- Die weitere Verwendung von neun Kartons als Deckenbilder im Palais Questenberg-Kaunitz 235
- Die Präsentation der Kartons an der Decke des Palais Questenberg-Kaunitz Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1940 244
- Übergabe aller Kartons 249
- Zur Aufbewahrung jener Kartons, die nicht im Palais Questenberg-Kaunitz präsentiert wurden 249
- Ausstellungen der Kartons 252
- Herstellung und Verwendung von Kartons für Wand- und Deckengemälde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Beispiele und Quellenliteratur 257
- Die Papierbahn 257
- Die Zeichnung 260
- Die Fixierung 263
- Die Übertragung an die Wand 265
- Die Fresko-Probetafeln 267
- Kupelwiesers Palette und Maltechnik 270
- Kupelwiesers Papiere: Ein Überblick über die Papierproduktion in der Habsburgermonarchie um 1850 273
- Die Papiere für Skizzen und Vorstudien 273
- Transparentpapiere 276
- Papiere für die Kartons 279
- Anhang: Programmentwürfe und Korrespondenzen Nö. Landesarchiv, Varia 8/1a: Programmentwurf I 294
- Nö. Landesarchiv, Varia 8/1b: Programmentwurf II 296
- Nö. Landesarchiv, Varia 8/1c: Programmentwurf III 297
- Nö. Landesarchiv, Varia 8: Schreiben von Leopold Kupelwieser an Freiherrn Kübeck von Kübau 297
- Nö.Landesarchiv, Varia 8: Anweisung Kübeck von Kübaus an Freiherrn Talatzko von Gestiecek 298
- Literaturverzeichnis 301
- Quellenverzeichnis 305
- Personenregister 306